Bundesverfassungsgericht

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Anforderungen an das gerichtliche Eilverfahren zum Entzug der elterlichen Sorge

Pressemitteilung Nr. 57/2002 vom 21. Juni 2002

Beschluss vom 21. Juni 2002
1 BvR 605/02

Die 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde eines Elternpaars stattgegeben, die sich gegen den Entzug der elterlichen Sorge für ihre vier gemeinsamen Kinder und für drei weitere Kinder der beschwerdeführenden Mutter richtet. Diese Maßnahme war in einem gerichtlichen Eilverfahren angeordnet worden.

1. Die sieben Kinder sind zwischen 1990 und dem 11.12.2001 geboren. Die Mutter hat aus erster Ehe vier weitere Kinder, die bei ihrem sorgeberechtigten Vater leben. Nach früherer Gewährung von sozialpädagogischen Familienhilfen wandte sich die Beschwerdeführerin (Bf) im Dezember 2000 an das Jugendamt und bat um Hilfen zur Erziehung. Ein vom Jugendamt daraufhin in Auftrag gegebenes familienpsychologisches Gutachten, mit dem ein Gesamtkonzept für die Bf und ihre Kinder entwickelt werden sollte, wurde am 17.12.2001 durch einen Diplom-Psychologen erstattet. Unter Berufung darauf beantragte das Jugendamt noch am selben Tag den Entzug der elterlichen Sorge sowie den Ausschluss des Umgangsrechts im Wege der einstweiligen Anordnung. Ebenfalls am 17.12.2001 entzog das Amtsgericht (AG) den Bf ohne deren Anhörung die elterliche Sorge für die Kinder. Zugleich wurde deren Herausgabe angeordnet und das Jugendamt zur Durchsetzung der Herausgabeanordnung ermächtigt. Zur Begründung verwies das AG auf die vom Gutachter angeführten dringenden Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Wohls der sieben Kinder. Als einzig möglicher Weg erscheine die Trennung von den Eltern angezeigt. Tags darauf schloss das AG ebenfalls im Eilverfahren den Umgang der Bf mit den Kindern aus und ordnete an, dass ihnen der Aufenthaltsort der Kinder nicht mitzuteilen ist. Ferner wurde auch der Umgang der Bfin mit ihren Kindern aus erster Ehe ausgeschlossen. Das Jugendamt nahm die Kinder am 18. Dezember 2001 aus der Familie heraus, das Neugeborene wurde von der Entbindungsstation mitgenommen. Das Oberlandesgericht (OLG) wies die Beschwerde der Bf gegen den Beschluss des AG vom 17.12.2001 unter Hinweis auf das Gutachten zurück.

2. Die Kammer hat den Beschluss des OLG und den das Sorgerecht entziehenden Beschluss des AG aufgehoben, weil sie die Bf in ihrem grundrechtlich geschützten Elternrecht aus Art.6 GG verletzen. Zur Begründung heißt es:

Die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art.6 GG wirken sich auf das gerichtliche Verfahren aus. Um zu verhindern, dass materielle Grundrechtspositionen entwertet werden, muss gerade das kindschaftsrechtliche Eilverfahren so ausgestaltet werden, dass es effektiven Grundrechtsschutz gewährleistet. Denn im Bereich des Sorgerechts können bereits vorläufige Maßnahmen insbesondere auf Grund der Dauer des Hauptsacheverfahrens Tatsachen schaffen, die später nicht oder nur schwer rückgängig zu machen sind. Deshalb sind jedenfalls die im Eilverfahren zur Verfügung stehenden Aufklärungs- und Prüfungsmöglichkeiten durch das zur Entscheidung berufene Gericht auszuschöpfen.

Diesen Maßstäben genügt weder die Entscheidung des AG noch jene des OLG. Sie haben weder die Bedeutung des Elternrechts für ihre Entscheidung zutreffend erkannt noch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinreichend beachtet. Die Gerichte haben keine Feststellungen zum Ausmaß der Kindeswohlgefährdung getroffen und nicht geprüft, ob die eventuelle Gefahr mit milderen Mitteln abwendbar ist. Weiter ist den gerichtlichen Eilentscheidungen kein ermittelter Sachverhalt zugrundegelegt worden, der die Eingriffe rechtfertigen könnte.

Denn das AG hat seine schwer wiegenden Anordnungen noch am Tag des Eingangs der Anregung durch das Jugendamt getroffen. Dabei wurde der Sachverhalt weder beim Jugendamt noch beim Gutachter kurzfristig weiter aufgeklärt. Eine solche im Amtsverfahren vorzunehmende beschleunigte Sachverhaltsaufklärung hätte jedoch angesichts der Schwere des Grundrechtseingriffs erfolgen müssen, um gerichtlicherseits zum einen das Ausmaß der Kindeswohlgefährdung sowie zum anderen festzustellen, ob es mildere Mittel zu ihrer Abwehr gibt. Die Kammer verkennt nicht, dass die Hinweise des Jugendamts auf verschiedene Missstände eventuell sogar Anlass für ein sofortiges familiengerichtliches Einschreiten boten, um Gefährdungen für das Kindeswohl effektiv zu begegnen. Dabei muss aber die Auswahl der Maßnahme immer im Verhältnis zum Grad der Gefährdung stehen. Dem dadurch bedingten Aufklärungsbedarf ist das AG nicht nachgekommen. Es hat weder telefonisch den Sachverhalt weiter erkundet, noch sich einen Eindruck von den Kindern verschafft. Schließlich blieben die Auswirkungen der Eilentscheidung auf die Kinder unberücksichtigt. Die Gerichte sind auch nicht dem Widerspruch nachgegangen, dass die Mutter ihrerseits um Hilfen zur Erziehung nachsuchte, andererseits der Gutachter aber mildere Mittel wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft der Eltern ausschloss.

Die Kammer schließt nicht aus, dass das AG vor Abschluss des vorrangig zu bearbeitenden und zu beschleunigenden Hauptsacheverfahrens erneut eine gegebenenfalls zu befristende Eilentscheidung erlässt. Für diesen Fall weist die Kammer darauf hin, dass das AG sorgfältig zu prüfen hat, ob und inwieweit den Bf ein Umgang mit ihren Kindern gewährt wird.

Soweit die Bf sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde auch gegen die Anordnung des Umgangsausschlusses zur Wehr setzten, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Insoweit wurde der Rechtsweg nicht erschöpft.

Karlsruhe, den 21. Juni 2002