Bundesverfassungsgericht

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Einstweilige Anordnung gegen Durchsuchungs- und Beschlagnahmemaßnahmen in einer Rechtsanwalts- und Steuerberaterpraxis

Pressemitteilung Nr. 65/2002 vom 19. Juli 2002

Beschluss vom 17. Juli 2002
2 BvR 1027/02

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat eine einstweilige Anordnung in einem Verfahren erlassen, in dem eine Anwaltskanzlei und Räume einer Steuerberatungsgesellschaft im Steuerstrafverfahren gegen einen Sozius durchsucht sowie Kopien aller dortiger Computerdateien beschlagnahmt worden sind. Der Senat hat angeordnet, dass die beschlagnahmten Computer und Datenträger sowie alle kopierten Daten zu versiegeln und beim zuständigen Amtsgericht zu hinterlegen sind. Es dürfen nur von denjenigen Dateien Kopien angefertigt, zurückbehalten und verwendet werden, die wegen einer erkennbaren Tatverstrickung der Beschlagnahme unterliegen und anhand ihrer Bezeichnung Bezüge zum Tatvorwurf aufweisen.

1. Dem Verfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Steuerfahndungsstelle des Finanzamts führt ein Ermittlungsverfahren gegen einen Rechtsanwalt und Steuerberater (beschuldigter Beschwerdeführer; Bf). Dieser ist neben zwei weiteren Rechtsanwälten (weitere Bf) Sozius einer Rechtsanwaltskanzlei und Mitgesellschafter einer unter derselben Adresse tätigen Steuerberatungsgesellschaft (ebenfalls Bf). Gegen den beschuldigten Bf besteht der Verdacht, er sei daran beteiligt gewesen, dass drei inländische Handelsfirmen Geldbeträge für tatsächlich nicht erbrachte Lieferungen und Leistungen an Briefkastenfirmen auf der britischen Insel Jersey gezahlt hätten. Dadurch seien Gewerbe- und Körperschaftssteuer der Firmen und seine Einkommensteuer verkürzt worden. Außerdem werden weitere Personen, die nicht in der Kanzlei und Steuerberaterpraxis tätig sind, mitbeschuldigt.

Auf Grund dieses Verdachts erließ das Amtsgericht Hamburg (AG) Durchsuchungsbeschlüsse bezüglich des Arbeitsplatzes des beschuldigten Bf und der Räume der Steuerberatungsgesellschaft. Bei der Durchsuchung wurden Beweisgegenstände und Computer beschlagnahmt sowie Kopien sämtlicher Dateien der elektronischen Datenverarbeitung der Rechtsanwaltskanzlei und Steuerberatungsgesellschaft angefertigt. Das AG bestätigte die Beschlagnahme der Gegenstände und Daten nur zum Teil. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft erweiterte das Landgericht Hamburg (LG) den Umfang der Beschlagnahme wieder auf alle angefertigten Kopien von Computerdateien und nahezu alle Beweisgegenstände.

Der beschuldigte Bf und die drei weiteren Bf wenden sich mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die Durchsuchung und die Beschlagnahme. Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hatten sie im Wesentlichen Erfolg.

2. Zur Begründung heißt es in dem Beschluss des Senats:

Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Sie wirft die noch ungeklärte Frage nach der verfassungsrechtlichen Bedeutung einer Beschlagnahme von Datenbeständen bei Berufsgeheimnisträgern auf, wenn dieser Eingriff sowohl Beschuldigte als auch Nichtbeschuldigte trifft und die erfassten Daten nur zum Teil wegen Tatverstrickung einem Beschlagnahmezugriff, zum Teil aber auch besonderem rechtlichen Schutz unterliegen.

Der Erfolg der Verfassungsbeschwerde ist offen. Deshalb hängt die Entscheidung über die einstweilige Anordnung von einer Folgenabwägung ab.

Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, hätte die Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der Beschlagnahmebestätigung des Datenbestandes jedoch später Erfolg, so könnten rechtlich geschützte Vertrauensbeziehungen der Bf auch zu Mandanten, die mit dem Ermittlungsverfahren gegen den beschuldigten Bf und die Mitbeschuldigten in keinem Zusammenhang stehen, möglicherweise irreparabel beeinträchtigt werden. Die Befürchtung, dass Strafverfolgungsbehörden die Daten sichten, könnte das Vertrauen zwischen den Bf und ihren Auftraggebern so nachhaltig stören, dass diese den Bf ihre Mandate entziehen. Ergeht hingegen die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde in Bezug auf die Beschlagnahme der Datenträger und Dateien aber später keinen Erfolg, dann wäre im Strafverfahren gegen den beschuldigten Bf kein Beweisverlust zu befürchten. Allerdings bliebe den Ermittlungsbehörden vorerst die Möglichkeit versperrt, mit Hilfe dieser Informationen weitere Ermittlungshandlungen vorzunehmen.

Bei Abwägung der jeweiligen Folgen wiegen die möglichen Nachteile für die Bf schwerer, soweit es sich um Daten der nicht beschuldigten Berufsgeheimnisträger oder solcher Mandanten handelt, die von dem Ermittlungsverfahren gegen den beschuldigten Sozius und gegen die Mitbeschuldigten nicht betroffen sind. Das Gericht hat deshalb einstweilen die Hinterlegung der sichergestellten Datenträger und der Datenträger mit behördlichen Kopien von Dateien beim Amtsgericht angeordnet. Hinsichtlich bestimmter Dateien, die schon durch ihre Bezeichnung einen Bezug zum Tatvorwurf erkennen lassen, ist die Abwägung zu Gunsten des staatlichen Interesses an der Strafverfolgung ausgegangen. Insoweit dürfen weitere Kopien angefertigt, zurückbehalten und verwendet werden

Karlsruhe, den 19. Juli 2002