Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Verfahren zur Festbetragsfestsetzung ist verfassungsgemäß

Pressemitteilung Nr. 112/2002 vom 17. Dezember 2002

Urteil vom 17. Dezember 2002
1 BvL 28/95

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat heute sein Urteil zu den 1989 in die gesetzliche Krankenversicherung eingeführten Festbeträgen für Arzneimittel, Hilfsmittel und Sehhilfen verkündet. Danach ist die in § 35 und § 36 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) enthaltene Ermächtigung der Krankenkassenverbände, für Arznei- und Hilfsmittel Festbeträge festzusetzen, mit dem Grundgesetz vereinbar.

In den Normenkontrollverfahren geht es um die Frage, ob das Verfahren der Festbetragsfestsetzung als solches rechtsstaatlichen Anforderungen genügt und ob hierdurch Grundrechte der Betroffenen verletzt werden. Die mit der Festbetragsfestsetzung einhergehenden Fragen zur materiellen Verfassungsmäßigkeit der Festeträge sind nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Was den der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt weiter angeht, wird auf die Pressemitteilung Nr. 31/2002 vom 11. März 2002 verwiesen.

Zur Begründung seiner Entscheidung führt der Senat aus: 1. Die Vorlagen sind zulässig. Die Klärung zweifelhafter europarechtlicher Fragen bleibt dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorbehalten. Diese Fragen, die zu einer Vorlage des Bundesgerichtshofs an den EuGH geführt haben, stehen der konkreten Normenkontrolle mangels Identität mit den zu klärenden verfassungsrechtlichen Fragen nicht entgegen.

2. Das Verfahren der Festbetragsfestsetzung ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Die den Verbänden der Krankenkassen eingeräumte Befugnis, für Arzneimittel und Hilfsmittel Festbeträge festzusetzen, verstößt nicht gegen Art. 12, Art. 20 und Art. 80 GG. Die Festbeträge müssen nicht von Verfassungs wegen durch Rechtsverordnung festgesetzt werden. Die Berufsfreiheit der Leistungserbringer und der Pharmaunternehmer wird nicht berührt. Grundrechte der Ärzte und der Versicherten werden durch die vom Gesetzgeber gewählte Form der Festbetragsfestsetzung nicht verletzt.

a) Das Grundrecht der Berufsfreiheit schützt in der bestehenden Wirtschaftsordnung auch das berufsbezogene Verhalten der Unternehmen am Markt nach den Grundsätzen des Wettbewerbs. Es umfasst die Teilhabe am Wettbewerb, ohne dass ein Anspruch auf Erfolg im Wettbewerb oder auf Sicherung künftiger Erwerbsmöglichkeiten bestünde. Umsatz und Erträge unterliegen dem Risiko laufender Veränderungen je nach den Marktverhältnissen. Festbeträge sind Regeln über (Höchst-)Preise, bis zu deren Höhe die Krankenkasse das verordnete Mittel voll bezahlen muss. Solche Regelungen berühren die Berufsausübungsfreiheit der Ärzte aus Art. 12 Abs. 1 GG und die Handlungsfreiheit der Versicherten aus Art. 2 Abs. 1 GG. Ärzte sind in ihrem Verhalten und in ihrer Therapiefreiheit betroffen. Versicherte werden in ihrer Freiheit zur Auswahl unter Arznei- und Hilfsmitteln im Rahmen des Sachleistungsprinzips eingeengt. Hingegen werden Leistungserbringer (Hersteller oder Anbieter von Arznei- und Hilfsmitteln) durch die Festbetragsregelung nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG berührt, obgleich faktisch mittelbar ihre Marktchancen betroffen werden. Insoweit handelt es sich um einen bloßen Reflex der Regelung, die auf das System der gesetzlichen Krankenversicherung bezogen ist. Sie soll den Gesetzesadressaten die Beachtung des ihnen rechtlich vorgegebenen Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit ermöglichen. Dies dient dazu, das Leistungssystem der Krankenversicherung funktionsfähig zu halten. Durch die regelmäßige Überprüfung der Festbeträge soll gesichert werden, dass insoweit auch flexibel auf Veränderungen reagiert werden kann.

Das Festbetragsfestsetzungsverfahren wirkt sich über diese faktisch mittelbaren Folgen hinaus nicht berufsregelnd für Hersteller und Leistungserbringer aus. Den Verbänden der Krankenkassen ist keine über die Konkretisierung der wirtschaftlichen Versorgung der Versicherten hinausgehende Aufgabe übertragen worden. Insbesondere gehört es nicht zu ihren Befugnissen, die Funktionsfähigkeit des Arznei- oder Hilfsmittelmarktes als solche zu sichern. Sie sind nicht zu wirtschaftslenkenden Maßnahmen mit berufsregelnder Tendenz ermächtigt worden. Zwar sollen die Festbeträge einen wirksamen Preiswettbewerb auslösen. Eine eigenständige Möglichkeit, den Preiswettbewerb zu gestalten, ist den Verbänden jedoch nicht eingeräumt. Vielmehr haben sie zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung nur die Aufgabe, die wirtschaftliche Versorgung der Versicherten festzulegen. Der Senat legt weiter dar, dass die Offenlegung der Preise und die Festsetzung von Preisgrenzen für die Kostenübernahme die Anbieter zu Entscheidungen veranlasst, die typisch für unternehmerisches Verhalten im Wettbewerb sind. Der vom Gesetzgeber als Folge der Festbetragsfestsetzung erwartete Preiswettbewerb ist lediglich ein Mittel, um das in der gesetzlichen Krankenversicherung geltende Wirtschaftlichkeitsgebot umzusetzen.

Auch die Veröffentlichung der Festbeträge und die damit verbundene Orientierungsmöglichkeit für alle Marktteilnehmer berührt das Grundrecht der Berufsfreiheit der Anbieter nicht. Wettbewerb funktioniert nur, wenn die Marktteilnehmer über marktrelevante Faktoren gut informiert sind. Die dadurch ausgelöste Transparenz dient zugleich der Qualität und Vielfalt der Produkte und einer am Nachfrageverhalten orientierten Preisbildung durch die Anbieter. Im System der gesetzlichen Krankenversicherung ist der Markt im allgemeinen unübersichtlich. Nachfrage, Anspruchsberechtigung und Kostentragung fallen auseinander. Ein Sachleistungssystem, bei dem der Nutzer nicht das Entgelt für einzelne Produkte oder Leistungen aufbringen muss, wird jedenfalls transparenter, wenn anhand einer Höchstpreislinie wirtschaftliches Verhalten von unwirtschaftlichem unterscheidbar wird. Die Festbetragsregelung informiert den maßgeblichen Personenkreis über Eigenschaften und Preise von Arzneimitteln und sonstigen Sachleistungen. Damit werden die vom Gesetz auf Seiten der Akteure vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt, die zur Umsetzung des Wirtschaftlichkeitsgebots erforderlich sind. Vor den sich aus einer transparenteren Wettbewerbssituation ergebenden faktischen Nachteilen für Leistungsanbieter, insbesondere Arzneimittelhersteller, schützt jedoch Art. 12 Abs. 1 GG nicht. Es gibt keinen Anspruch auf Beibehaltung bisher günstiger Wettbewerbsrahmenbedingungen. Insoweit besteht nicht einmal ein schutzwürdiges Vertrauen. Dieses wäre nämlich darauf gerichtet, dass die gesetzlichen Ziele mangels ausreichender Markttransparenz letztlich nicht erreicht werden.

b) Der Gesetzgeber hat zu den mit der Festbetragsfestsetzung verbundenen Beschränkungen für Versicherte und Ärzte durch formelles Gesetz ermächtigt. Die Festbetragsfestsetzung erfolgt danach im Rahmen des Verwaltungsvollzugs. Die Rechtsgrundlage genügt den insoweit bestehenden verfassungsrechtlichen Anforderungen.

Der Gesetzgeber hat die Spitzenverbände der Krankenkassen zur Normenkonkretisierung ermächtigt. Das dabei einzuhaltende Verfahren hat er in seinen Grundzügen in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise festgelegt. Die für das Verhalten der Versicherten und der Ärzte wichtigen Regelungen hat er selbst getroffen. Die Festbeträge haben den Zweck, Krankenkassen, Ärzten und Patienten ein wirtschaftlich verantwortliches Verhalten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung zu ermöglichen. Insbesondere werden die Grenzen der Kostenübernahme verdeutlicht.

Die gesetzlichen Vorgaben für das zur Festbetragsfestsetzung vorgesehene Verwaltungshandeln sind trotz ihrer Auslegungsfähigkeit ausreichend bestimmt. Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe zur Definition des Versorgungsziels der gesetzlichen Krankenversicherung ergibt sich aus der Eigenart des zu ordnenden Sachbereichs. Die Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe ist ständig im Fluss, weil Medizin und Pharmakologie sich weiterentwickeln und der Markt sich verändert. Ein Versicherungssystem muss jedoch für die Versicherten im Wesentlichen Gleichbehandlung garantieren. Dies kann es nur leisten, wenn die typischen Fälle in Gruppen zusammengefasst werden. Dies dient auch der angemessenen Versorgung der Versicherten nach dem jeweiligen Stand der Erkenntnis oder der Technik. Die Konkretisierung des Wirtschaftlichkeitsgebots durch das Festbetragsfestsetzungsverfahren macht das Verwaltungshandeln der Krankenkassen für die Teilnehmer am Gesundheitsmarkt effektiver und vorhersehbarer.Dieses Verwaltungshandeln selbst ist unmittelbarer gerichtlicher Kontrolle zugänglich. Der Gesetzgeber strebt damit an, den Gesetzesvollzug in einem wichtigen Teilbereich der gesetzlichen Krankenversicherung zu verbessern. Die vorgesehenen Maßstäbe und das Verfahren der Entscheidungsfindung stoßen auf keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

Im Rahmen dieses Verfahrens hatte der Senat nicht zu prüfen, ob die Festbetragsfestsetzung im Ergebnis dem gesetzlichen Leistungsauftrag der Krankenversicherungsträger genügt. Mit dem Festbetragfestsetzungsverfahren verbindet sich ersichtlich keine Abkehr des Gesetzgebers vom Sachleistungsprinzip. Dieses sollte den Versicherten im unteren Preissegment erhalten bleiben; Versicherte müssen sich nicht mit Teilkostenerstattung zufrieden geben. Der Senat weist in diesem Zusammenhang auf die besondere Bedeutung der gerichtlichen Kontrolle der Festbetragsfestsetzung hin. Sie ist zur Wahrung der Rechte der Versicherten auf eine ausreichende Versorgung geeignet.

Karlsruhe, den 17. Dezember 2002