Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Zuwanderungsgesetz ist nichtig

Pressemitteilung Nr. 113/2002 vom 18. Dezember 2002

Urteil vom 18. Dezember 2002
2 BvF 1/02

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat heute sein Urteil in dem Normenkontrollverfahren über das Zuwanderungsgesetz verkündet und festgestellt, dass das angegriffene Gesetz mit Art. 78 GG unvereinbar und daher nichtig ist. Damit tritt das Gesetz nicht am 1. Januar 2003 in Kraft. Von der Nichtigkeitsfolge werden auch die Regelungen des Zuwanderungsgesetzes erfasst, die am 26. Juni und. 1. Juli 2002 wirksam geworden sind.

Der Hintergrund des Verfahrens ist der Pressemitteilung Nr. 84/2002 vom 1. Oktober 2002 zu entnehmen.

Der Normenkontrollantrag ist zulässig und nach Auffassung der Senatsmehrheit auch begründet.

1. Zur Begründung ihrer Entscheidung führt die Senatsmehrheit aus:

Das Zuwanderungsgesetz verstößt gegen Art. 78 GG und ist daher nichtig. Es ist wegen der in ihm enthaltenen Bestimmungen über das Verwaltungsverfahren ein so genanntes zustimmungspflichtiges Gesetz, das jedoch im Bundesrat nicht die erforderliche Mehrheit der Stimmen erhalten hat.

An einer Zustimmung des Landes Brandenburg zum Zuwanderungsgesetz fehlt es, weil bei Aufruf des Landes im Bundesrat die Stimmen nicht einheitlich abgegeben wurden. Nach dem Grundgesetz wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und den Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Diese Mitwirkung erfolgt nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch die aus dem Kreis der Landesregierungen stammenden Mitglieder des Bundesrats. Die Länder werden jeweils durch ihre anwesenden Bundesratsmitglieder vertreten. Dabei geht das Grundgesetz von der einheitlichen Stimmabgabe aus und respektiert die Praxis der landesautonom bestimmten Stimmführer, ohne seinerseits mit Geboten und Festlegungen in den Verfassungsraum des Landes überzugreifen. Der Abgabe der Stimmen durch einen Stimmführer kann jedoch jederzeit durch ein anderes Bundesratsmitglied desselben Landes widersprochen werden. Damit entfallen die Voraussetzungen der Stimmführerschaft. Hier hat das im Abstimmungsverfahren aufgerufene Land Brandenburg seine vier Stimmen nicht einheitlich abgegeben, was der Bundesratspräsident zutreffend unmittelbar nach der Stimmabgabe förmlich festgestellt hat.

Die Uneinheitlichkeit der Stimmenabgabe Brandenburgs ist durch den weiteren Abstimmungsverlauf nicht beseitigt worden. Der Bundesratspräsident durfte nach seiner Feststellung, dass das Land Brandenburg uneinheitlich abgestimmt habe, nicht das Bundesratsmitglied Dr. Stolpe fragen, wie das Land Brandenburg abstimme. Der die Abstimmung leitende Bundesratspräsident ist zwar grundsätzlich berechtigt, bei Unklarheiten im Abstimmungsverlauf mit geeigneten Maßnahmen eine Klärung herbeizuführen und auf eine wirksame Abstimmung des Landes hinzuwirken. Als unparteiischer Sitzungsleiter hat er den Willen des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren klar festzustellen. Besteht jedoch ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht und ist nach den gesamten Umständen nicht zu erwarten, dass ein solcher noch während der Abstimmung zustande kommen werde, entfällt das Recht zur Nachfrage. Hier lag der Wille des Landes Brandenburg zur uneinheitlichen Abstimmung klar zutage. Es bestand Klarheit über den Dissens. Ein einheitlicher politischer Landeswille war von den Beteiligten weder vor der Bundesratssitzung festgelegt noch wurde er von ihnen im Verlauf der Sitzung erwartet. Dies belegen ein Teil der Redebeiträge in der Plenardebatte und die sorgsame rechtliche Vorbereitung durch die Beteiligten. In diesem atypischen Fall war der Sitzungsleiter verpflichtet, die Uneinheitlichkeit der Stimmabgabe zu protokollieren. Zu einer Lenkung des Abstimmungsverhaltens des Landes Brandenburg mittels anschließender Nachfrage war der Bundesratspräsident unter den gegebenen Umständen nicht befugt. Angesichts dieser Ausgangslage ist der Fall der hier zu beurteilenden 774. Bundesratssitzung auch nicht mit der 10. Sitzung des Bundesrats vom 9. Dezember 1949 vergleichbar. Diese war verschiedentlich als Präzedenzfall angeführt worden.

Da kein Klärungsbedarf bestand, wäre die gezielte Rückfrage des Bundesratspräsidenten nur an den Ministerpräsidenten eines Landes lediglich zu rechtfertigen, wenn ein Ministerpräsident sich in der Abstimmung über die Stimmenabgabe durch die anderen Bundesratsmitglieder des Landes hätte hinwegsetzen dürfen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Ministerpräsident kann nämlich weder ein Weisungsrecht im Bundesrat beanspruchen noch stand ein drohender Verstoß gegen die Bundesverfassung in Rede.

Auch wenn ein Nachfragerecht des Bundesratspräsidenten grundsätzlich unterstellt wird, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Die Nachfrage hätte nur in der gebotenen neutralen Form erfolgen dürfen. Dazu bestanden zwei Möglichkeiten: Entweder hätte das Land Brandenburg in der laufenden Abstimmung ein zweites Mal aufgerufen werden können. Damit wäre die Frage, wie das Land abstimme, an alle anwesenden Bundesratsmitglieder gerichtet worden. Oder der Bundesratspräsident hätte -wie geschehen- ein Bundesratsmitglied des Landes direkt fragen dürfen, dann aber hätte nach dem "Ja" des Ministerpräsidenten zur Vermeidung von Unklarheit auch Minister Schönbohm gefragt werden müssen, ob er bei seinem "Nein" bleibe. Dem Schweigen ohne vorangehende Frage kommt kein rechtlicher Erklärungswert in einer Abstimmung zu; es besteht keine Pflicht zum ungefragten Zwischenruf.

Da es an einer Zustimmung des Landes Brandenburg fehlte, entfaltete auch die Feststellung des Bundesratspräsidenten nach Aufruf der weiteren Länder, der Bundesrat habe dem Gesetz zugestimmt, keine Rechtswirkung.

2. Die Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff haben dem Urteil eine abweichende Meinung beigefügt.

Sie stimmen der Senatsmehrheit darin zu, dass bei der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz das Land Brandenburg zunächst nicht einheitlich gestimmt hat. Ihrer Auffassung nach war das Land Brandenburg jedoch berechtigt, das im ersten Durchgang gezeigte Abstimmungsverhalten zu korrigieren. Der Bundesratspräsident durfte ihm dazu durch Nachfrage Gelegenheit geben. Die Annahme, dass der Bundesratspräsident die uneinheitliche Stimmabgabe ohne Nachfrage hätte registrieren müssen, weil keine Unklarheit vorgelegen habe, findet - so die abweichende Meinung der beiden Richterinnen - im geltenden Verfassungs- und Geschäftsordnungsrecht keine Grundlage. Die Abgrenzung zwischen klaren und unklaren Fällen, auf die die Senatsmehrheit abstellt, ist ihrerseits alles andere als klar und daher als verfassungsrechtlicher Maßstab für das Verhalten des Bundesratspräsidenten ungeeignet; das zeigt gerade der vorliegende Fall. Selbst wenn die Nachfrage unzulässig gewesen wäre, hätte dies nicht die im Urteil angenommene Konsequenz, dass das Land Brandenburg sein Korrekturrecht nicht mehr wirksam ausüben konnte. Die Auffassung der Senatsmehrheit läuft darauf hinaus, dass der Bundesratspräsident das Recht eines Landes zur Korrektur seiner Stimmabgabe für den konkreten Fall beseitigt, wenn er dem Land unveranlasst die Gelegenheit dazu anbietet. Das ist ein staatsrechtliches Unikat.

Die Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff gehen davon aus, dass der Bundesratspräsident mit seiner Nachfrage einen neuen Abstimmungsdurchgang eröffnet hat. In diesem zweiten Durchgang kam es nicht mehr auf die zuvor uneinheitlich abgegebenen Stimmen an, sondern darauf, ob das Land nunmehr einheitlich abstimmen würde. Das ist geschehen. Der Minister Schönbohm hat der Ja-Stimme des Ministerpräsidenten Stolpe lediglich die Worte "Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident" entgegengesetzt. Auf die mit diesen Worten bekräftigte Auffassung kam es aber nicht an. Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG verlangt nicht, dass die Vertreter eines Landes im Bundesrat einheitlicher Auffassung sind. Das Grundgesetz stellt ausschließlich auf die Einheitlichkeit der Stimmabgabe ab. Eben deshalb ist es notwendig, zwischen Stimmabgaben und Auffassungskundgaben deutlich zu unterscheiden. Eine Stimmabgabe des Bundesratsmitglieds Schönbohm, die das Zustandekommen des Zuwanderungsgesetzes hätte verhindern können, hat im entscheidenden zweiten Durchgang nicht mehr stattgefunden.

Karlsruhe, den 18. Dezember 2002