Bundesverfassungsgericht

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Zur Strafbarkeit des unerlaubten Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland

Pressemitteilung Nr. 19/2003 vom 11. März 2003

Beschluss vom 06. März 2003
2 BvR 397/02

Wird einem Ausländer die Straftat des unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 Ausländergesetz (AuslG) vorgeworfen, müssen die Strafgerichte von Verfassungs wegen selbstständig prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben waren. Dies entschied die 3. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 6. März 2003 auf die - erfolgreiche - Verfassungsbeschwerde (Vb) eines syrischen Staatsangehörigen (Beschwerdeführer; Bf), der mit gefälschtem Reisepass in die Bundesrepublik Deutschland eingereist war und seine eigenen Identitätspapiere bewusst im Heimatland zurückgelassen hatte. Die zugrundeliegenden Entscheidungen der Strafgerichte wurden aufgehoben, und die Sache an das Ausgangsgericht zurückverwiesen.

1. Es geht um folgenden Sachverhalt: Der 1998 eingereiste Bf blieb mit seinem Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ohne Erfolg. Obwohl er vollziehbar ausreisepflichtig war, wurde seine Abschiebung seitens der Ausländerbehörde nicht in die Wege geleitet. Die Beschaffung eines Heimreisedokuments verzögerte sich mangels Vorliegens der notwendigen Identitätsnachweise. Erst neun Monate später bewilligte die Ausländerbehörde dem Bf eine Aussetzung der Abschiebung (Duldung). Wegen dieses Sachverhalts wurde der Bf vom Amtsgericht wegen Verstoßes gegen § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Ein Ausländer, der eine nach dem Ausländergesetz erforderliche Aufenthaltsgenehmigung nicht oder nicht mehr besitzt, ist zur Ausreise verpflichtet. Besitzt er keine Duldung und bleibt er gleichwohl im Bundesgebiet, gilt die strafrechtliche Regelung des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG. Rechtsmittel des Bf gegen die Verurteilung blieben erfolglos. Hiergegen setzte er sich mit seiner Vb zur Wehr. Er rügte die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2, Art. 3 sowie aus Art. 103 Abs. 2 GG.

2. Die Kammer hat die Vb zur Entscheidung angenommen. Die Vb ist offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.

Die Verurteilung des Bf wurde damit begründet, dass ihm die Erlangung von Identitätsnachweisen zur Beschaffung der Einreisepapiere nach Syrien möglich gewesen sei, im Übrigen habe er die faktische Unmöglichkeit seiner Ausreise selbst herbeigeführt, weil er mit einem gefälschten Pass eingereist sei. Damit liegt der Verurteilung die Erwägung zugrunde, dass es zur Tatbestandsverwirklichung des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG nicht darauf ankomme, ob ein Anspruch auf Duldung bestehe oder nicht. Diese Annahme ist von Verfassungs wegen nicht hinnehmbar. Sie widerspricht der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und überlässt es dem freien Ermessen der Ausländerbehörden, ob und in welchem Umfang ein Ausländer sich strafbar macht.

Nach dem Ausländergesetz ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen entweder unverzüglich abzuschieben oder zu dulden. Dabei hat die Ausländerbehörde zu prüfen, ob und gegebenenfalls wann seine Abschiebung durchgeführt und zu welchem Zeitpunkt ein eventuelles Abschiebungshindernis behoben werden kann. Stellen sich Verzögerungen ein und bleibt der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss, ist - unabhängig von einem Antrag des Ausländers - als "gesetzlich vorgeschriebene förmliche Reaktion auf ein Vollstreckungshindernis" eine Duldung zu erteilen. Die Systematik des Ausländergesetzes lässt grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt, der den Zeitpunkt der Duldungserteilung ins Belieben der Behörden stellt. Der Ausländer ist auch zu dulden, wenn er die Entstehung des Hindernisses (z.B. durch Mitführen gefälschter Papiere bei der Einreise) oder dessen nicht rechtzeitige Beseitigung (etwa durch unterlassene Mitwirkung bei der Beschaffung notwendiger Identitätspapiere) zu vertreten hat. Die Duldung ist eine gesetzlich zwingende Reaktion auf ein vom Verschulden des Ausländers unabhängiges Abschiebungshindernis. Deshalb dürfen die Strafgerichte das Verwaltungshandeln ihrer Entscheidung nicht ungeprüft zugrunde legen. Dies führt im Falle einer gesetzwidrigen Praxis der Ausländerbehörden dazu, über die mögliche Strafbarkeit des Ausländers und deren Umfang entgegen den Grundsätzen des im Strafrecht geregelten Schuldprinzips letztlich die jeweilige Ausländerbehörde entscheiden zu lassen.

Karlsruhe, den 11. März 2003