Bundesverfassungsgericht

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Auslieferung nach Indien

Pressemitteilung Nr. 55/2003 vom 22. Juli 2003

Beschluss vom 24. Juni 2003
2 BvR 685/03

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines vanuatuischen, vormals indischen Staatsangehörigen, der sich gegen seine Auslieferung nach Indien zum Zwecke der Strafverfolgung wehrt, nicht zur Entscheidung angenommen. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat sich mit der Nichtannahme der Vb erledigt. Die Entscheidung ist mit sechs zu zwei Stimmen ergangen.

1. Zum Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer (Bf) wurde im Dezember 2002 auf dem Flughafen München aufgrund des Haftbefehls eines indischen Gerichts festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, in den Jahren 1994 und 1995 umgerechnet etwa 2,1 Millionen Euro in betrügerischer Weise von einer indischen Bank erlangt zu haben. Indien ersuchte um die Auslieferung zur Strafverfolgung wegen krimineller Verschwörung und Betrug. Das Oberlandesgericht München (OLG) erklärte in mehreren Beschlüssen die Auslieferung des Bf nach Indien für zulässig. Hiergegen richtet sich die Vb. Der Bf rügt die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 3 Abs. 1 GG sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Ihm drohten in Indien Folter, eine unerträglich schwere Strafe und angesichts der dortigen Haftbedingungen eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung.

2. Der Senat hat im Wesentlichen ausgeführt:

Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist in Auslieferungsverfahren zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte mit dem in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind. Zu Letzterem zählt der Kernbereich des aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Gebots der Verhältnismäßigkeit. Die zuständigen Organe der Bundesrepublik Deutschland dürfen daher einen Verfolgten nicht ausliefern, wenn die Strafe, die ihm im ersuchenden Staat droht, unerträglich hart, mithin unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erscheint. Eine angedrohte oder verhängte Strafe darf nicht grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein. Ist die zu vollstreckende Strafe hingegen lediglich als in hohem Maße hart und bei einer strengen Beurteilung anhand deutschen Verfassungsrechts nicht mehr als angemessen anzusehen, liegt kein unüberwindbares Hindernis für eine Auslieferung vor. Dies wird vor dem Hintergrund verständlich, dass sich das Grundgesetz für eine internationale Zusammenarbeit und offene Staatlichkeit entschieden hat. Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes gebietet es auch, fremde Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten, auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen.

Danach verstoßen die angefochtenen Entscheidungen nicht gegen die Verfassung. Das OLG hat keinen überzogenen Maßstab angewendet, indem es begründete Anhaltspunkte für die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung verlangt hat. Dieser Prüfungsmaßstab entspricht sowohl der Rechtsprechung des BVerfG als auch der des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung ist anzunehmen, wenn gerade in dem konkreten Fall eine "beachtliche Wahrscheinlichkeit" besteht, in dem ersuchenden Staat das Opfer von Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu werden. Auf solche konkreten Anhaltspunkte im jeweiligen Einzelfall kommt es nur dann nicht an, wenn in dem ersuchenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzung der Menschenrechte herrscht.

Das OLG hat eine entsprechende Foltergefahr für den Bf verneint. Seine Feststellungen dazu sind nicht willkürlich. Zwar sind nach den Berichten von Amnesty International und des Auswärtigen Amtes Folterungen und Misshandlungen von strafverdächtigen Personen in Indien weit verbreitet sowie Folter eine häufig von der Polizei angewandte Vernehmungsmethode und ein Erpressungsmittel. Die Einschätzung des OLG, in Indien herrsche dennoch keine ständige Praxis umfassender oder systematischer Menschenrechtsverletzungen und dem Bf drohe keine konkrete Gefahr von Folter, ist jedoch nachvollziehbar. Sie ist darauf gestützt, dass dort nach der Auskunftslage des Auswärtigen Amtes zwar Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe vorkommen, jedoch verstärkt rechtlich geahndet werden. Folter ist in Indien gesetzlich verboten und wird nicht durch den Staat zielgerichtet gefördert. Außerdem spricht für diese Einschätzung der Abschluss des Auslieferungsvertrages zwischen Deutschland und Indien am 27. Juni 2001. Bestünde in Indien eine systematische menschenrechtswidrige Praxis im Strafvollzug, wäre unter Federführung des Auswärtigen Amtes ein Auslieferungsvertrag, über den mit Unterbrechungen seit den 50er Jahren verhandelt wurde, jedenfalls im Jahr 2001 gar nicht erst geschlossen worden. Schon die Tatsache des Vertragsschlusses mindert eine etwaige Gefahr für den Bf, weil die Rechtsbindungen des Vertrages an die Stelle einer Zusicherung menschenwürdiger Behandlung treten. Aus ihm erwachsen für Indien Rechtspflichten hinsichtlich der Achtung des menschenrechtlichen Mindeststandards im konkreten Auslieferungsfall. Die Vertragsparteien müssen nach der Unterzeichnung und vor der Ratifikation des Abkommens alles unterlassen, was den Zielen des Vertrages zuwider läuft. Im konkreten Fall hat die Bundesregierung die Auslieferung des Bf "nach Maßgabe der Grundsätze des deutsch-indischen Auslieferungsvertrages" bewilligt. Damit ist das deutsch-indische Auslieferungsabkommen materiell zur Grundlage der Auslieferung des Bf geworden. Indien verstieße gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen, wenn es den Bf nach der Übergabe nicht entsprechend den völkerrechtlichen Mindeststandards behandeln würde. Schließlich hat auch der bisherige vertragslose Auslieferungsverkehr mit Indien auf der Grundlage stattgefunden, dass menschenrechtliche Mindeststandards im indischen Strafverfahren und Strafvollzug eingehalten werden.

Auch für die Haftbedingungen im Strafverfahren und im Strafvollzug sind mit Blick auf den deutsch-indischen Auslieferungsvertrag keine Anhaltspunkte erkennbar, dass speziell bei den von Deutschland nach Indien ausgelieferten Personen dort die menschenrechtlichen Mindeststandards nicht eingehalten würden. Die Gefahr einer davon abweichenden Behandlung gerade seiner Person in der indischen Haft hat der Bf nicht dargelegt. Hinzu kommt, dass über eine menschenrechtswidrige Behandlung der bereits verurteilten Mitangeklagten des Bf nichts bekannt geworden ist.

Hinsichtlich der in Indien maximal drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe sind die Entscheidungen des OLG verfassungsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Dem Bf werden Vermögensdelikte mit einem insgesamt hohen Unrechtsgehalt vorgeworfen. Eine unerträglich harte Strafe liegt nicht vor, wenn der indische demokratische Gesetzgeber den Strafrahmen für diese Straftaten bis zur lebenslänglichen Freiheitsstrafe festgesetzt hat. Staaten können unterschiedliche Auffassungen über die Strafwürdigkeit von kriminellem Verhalten haben. Auch nach deutschem Recht müsste der Bf mit einem Strafhöchstmaß von 15 Jahren Gesamtfreiheitsstrafe rechnen.

3. Der Richter Sommer und die Richterin Lübbe-Wolff haben dem Beschluss eine abweichende Meinung beigefügt:

Nach ihrer Auffassung verletzen die Entscheidungen des OLG den Bf in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG. In Bezug auf die Frage, ob der Bf im Falle seiner Auslieferung menschenwürdewidrigen Haftbedingungen ausgesetzt sein wird, ist das OLG seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung nicht nachgekommen.

Ein Lagebericht des Auswärtigen Amtes, auf den das OLG sich bezieht, bezeichnet die Haftbedingungen als insbesondere in den großen indischen Gefängnissen desolat; von den in drei unterschiedlichen Kategorien untergebrachten Gefangenen müsse sich ein Großteil (Kategorie C) mit unzumutbaren Verhältnissen bescheiden - so komme es vor, dass sich bis zu 50 Inhaftierte eine Großraumzelle teilen müssen, keine Betten zur Verfügung stehen und im Winter Decken fehlen. Angesichts dieser Feststellungen durfte das Gericht nicht ohne weitere Sachverhaltsaufklärung davon ausgehen, dass die Haftbedingungen, die den Bf erwarten, einer Auslieferung nicht entgegenstehen.

Dass das OLG den Bedenken, die der Lagebericht wecken musste, nicht weiter nachgegangen ist, lässt sich entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit nicht mit dem Argument rechtfertigen, die Tatsache der Unterzeichnung eines deutsch-indischen Auslieferungsvertrages spreche für Verhältnisse, die einer Auslieferung im Regelfall nicht entgegenstehen. Dem Abschluss eines Auslieferungsvertrages mag eine für die Beurteilung konkreter Auslieferungsfälle relevante Indizwirkung zukommen können. Inhalt und Reichweite dieser Indizwirkung dürfen aber nicht völlig unabhängig von vorliegenden anderweitigen Informationen bestimmt werden. Wenige Wochen vor Unterzeichnung des Auslieferungsvertrages hatte der Lagebericht des Auswärtigen Amtes unter anderem festgestellt, Folter sei in Indien, obwohl gesetzlich verboten, "eine häufig von der Polizei angewandte Vernehmungsmethode". Angesichts dieser Feststellung ist, auch wenn das OLG eine konkret für den Bf bestehende Foltergefahr mit vertretbaren Gründen verneint hat, schon schwer nachvollziehbar, wie das Gericht davon ausgehen konnte, die Vertragsunterzeichnung begründe überhaupt eine Indizwirkung dahingehend, dass regelmäßig von dem menschenrechtlichen Mindeststandard entsprechenden, einer Auslieferung nicht entgegenstehenden Verhältnissen in Indien auszugehen sei. Jedenfalls war aber eine etwaige Indizwirkung der Vertragsunterzeichnung, soweit es um die Haftbedingungen in Indien geht, durch die hierzu im Lagebericht enthaltenen detaillierten Feststellungen erschüttert. An der demnach gebotenen weiteren Sachverhaltsaufklärung war das OLG weder völkerrechtlich gehindert noch durfte es sich davon durch diplomatische Rücksichten abhalten lassen.

Karlsruhe, den 22. Juli 2003