Bundesverfassungsgericht

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Zu den Sorgfaltsanforderungen für Presseagenturen

Pressemitteilung Nr. 74/2003 vom 26. September 2003

Beschluss vom 26. August 2003
1 BvR 2243/02

Die 1. Kammer des Ersten Senats hat die Verfassungsbeschwerde einer Presseagentur (Beschwerdeführerin; Bf) nicht zur Entscheidung angenommen. Diese war im Ausgangsverfahren verurteilt worden, die Verbreitung einer Interviewäußerung zu unterlassen. In ihr hatte die Interviewpartnerin dem Bundeskanzler unterstellt, dass er seine "grauen Schläfen wegtönen" würde.

Im Ausgangsstreit ging es nicht darum, ob der Bundeskanzler seine Haare färbt. Vielmehr war unstrittig, dass dies nicht der Fall ist. Gegenstand des Verfahrens war nur die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Presseagentur ein Interview mit einer gegenteiligen Äußerung verbreiten und sich dabei auf die Aussage der Interviewten verlassen durfte.

Die Kammer verweist auf die Rechtsprechung der Fachgerichte und des Bundesverfassungsgerichts, nach der herabsetzende Tatsachenbehauptungen zu unterlassen sind, wenn sie unwahr oder nicht erweislich wahr sind. Ob jemand, der die Äußerung eines Dritten verbreitet, dennoch für sie einstehen muss, hängt davon ab, ob er Sorgfaltsanforderungen missachtet hat. Die Kammer führt zu den Sorgfaltsanforderungen für Presseagenturen aus:

Als Presseagentur treffen die Bf keineswegs geringere Sorgfaltsanforderungen als andere Presseunternehmen. Presseagenturen nehmen eine herausragende, in jüngerer Zeit immer wichtiger gewordene Rolle bei der nachrichtlichen Gestaltung der Presse wahr. Sie liefern in der Praxis einen großen Teil der Nachrichten druckfertig an die Presseunternehmen. Das unzweifelhaft große Vertrauen, das Medienunternehmen den Agenturen entgegenbringen, und die hervorgehobene meinungsbildende Funktion von Presseagenturen rechtfertigen es, den von ihnen veröffentlichten Nachrichten nur insoweit Schutz vor zivilrechtlichen Ansprüchen der Betroffenen zu gewähren, als die praktischen Möglichkeiten zur Überprüfung der Richtigkeit im Rahmen des Zumutbaren genutzt werden. Die Anforderungen sind bei Presseagenturen nicht etwa deshalb gemildert, weil sie täglich mit einer großen Zahl von Meldungen umzugehen haben.

Für die Beurteilung von Sorgfaltsanforderungen ist das Interesse der Öffentlichkeit an der jeweiligen Äußerung von Bedeutung. Hierzu führt die Kammer aus:

Die vorliegend angegriffene Äußerung behandelte nicht ein Thema mit großer politischer, sozialer oder wirtschaftlicher Tragweite, war aber auch für die Öffentlichkeit sowie für den Betroffenen, nämlich den Bundeskanzler als Kläger des Ausgangsverfahrens nicht unbedeutend. In dem Interview ging es um die Gegenüberstellung zweier Kanzlerkandidaten, mithin auch um das "gute Abschneiden" des Klägers in der öffentlichen Darstellung. Die angegriffene Äußerung beschäftigte sich nicht beiläufig mit der Haarfarbe des Bundeskanzlers, sondern knüpfte an sie Aussagen zu seiner Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Damit wurde der Hinweis auf die Tönung der Haare zu einer Art Probe für wichtige Qualifikationen eines Politikers. Sein Interesse, insofern nicht auf einer falschen Grundlage bewertet zu werden, stimmte mit dem Interesse der Öffentlichkeit überein, möglichst zutreffend informiert zu werden.

Die Kammer hält auch die von den Fachgerichten verlangten Sorgfaltsanforderungen für nicht überspannt:

Die Bf hatte das Interview durch einen ihrer Mitarbeiter selbst geführt. Die Verbreitung der Meldung hierüber, die ohnehin nicht umgehend erfolgte, wäre durch eine Recherche nicht unzumutbar verzögert worden. In Betracht wäre etwa eine keineswegs zeitaufwendige Nachfrage bei der Interviewten oder dem Bundeskanzler gekommen.

Karlsruhe, den 26. September 2003