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Alterssicherung der Landwirte

Pressemitteilung Nr. 1/2004 vom 14. Januar 2004

Beschluss vom 09. Dezember 2003
1 BvR 558/99

Es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, dass der Ehegatte eines Landwirts in der Alterssicherung der Landwirte auch dann versicherungspflichtig ist, wenn er in der Landwirtschaft nicht mitarbeitet. Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts und wies die Verfassungsbeschwerde (Vb) der Ehefrau eines Nebenerwerbslandwirts (Beschwerdeführerin; Bf), die sich gegen ihre Versicherungspflicht in der landwirtschaftlichen Alterssicherung wehrte, zurück.

1. Zum Sachverhalt und zum rechtlichen Hintergrund des Verfahrens:

Die Bf, die ihre vier Kinder, den auf dem Anwesen lebenden Schwiegervater sowie den Haushalt versorgt und betreut, verrichtet keine landwirtschaftlichen Arbeiten. Ab Januar 1995 wurde sie als Ehefrau eines Landwirts zu Beiträgen in der landwirtschaftlichen Alterssicherung herangezogen, auf ihre Anträge hin aber schließlich wegen eines privaten Lebensversicherungsvertrages von der Versicherungspflicht befreit. Mit ihrer gegen den Heranziehungsbescheid gerichteten Klage machte sie eine Verletzung ihrer Grundrechte geltend. Nach einem Erfolg vor dem Sozialgericht wies das Bundessozialgericht (BSG) ihre Klage ab. Mit ihrer Vb rügt die Bf insbesondere die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG.

Zum 1. Januar 1995 wurde mit dem Gesetz zur Alterssicherung der Landwirte (ALG) insbesondere eine eigenständige Versicherungspflicht für die Ehegatten von Landwirten eingeführt. Die Mitarbeit des Landwirtsehegatten auf dem Hof ist danach nicht Voraussetzung für die Versicherungspflicht. Ziel der Reform war die gerechtere Ausgestaltung und finanzielle Stabilisierung der landwirtschaftlichen Alterssicherung sowie die Verbesserung der sozialen Sicherung der Bäuerin durch den Aufbau eines eigenen Rentenanspruchs. Die Entwicklung der finanziellen Grundlagen des bisherigen Systems der Altershilfe war von steigenden Altersgeldaufwendungen und einer schrumpfenden Solidargemeinschaft geprägt gewesen. Ein höherer Bundeszuschuss zur landwirtschaftlichen Altershilfe erschien nicht möglich. Die gesetzlich vorgesehenen Befreiungsmöglichkeiten von der Versicherungspflicht setzen grundsätzlich eine anderweitig bestehende Versicherungspflicht voraus. In die Versicherungspflicht werden auch die Landwirtsehegatten, die beim In-Kraft-Treten der gesetzlichen Regelung bereits mit einem Landwirt verheiratet waren (so genannte Bestandsbäuerinnen), einbezogen. Dies gilt ab 1995 auch für jene Jahrgänge der Bestandsbäuerinnen, die unter dem neuen Recht die Wartezeit für eine Rente nicht mehr zurücklegen konnten. Die landwirtschaftliche Alterssicherung legt einen festen und einheitlichen Beitrag zu Grunde. Er stieg bis zum Jahr 2003 auf 198 Euro (West) und 166 Euro (Ost). Dazu gewährt der Staat einkommensabhängige Beitragszuschüsse. Sie lagen im Jahr 2003 in den alten Bundesländern monatlich je nach Einkommensklasse bei 8 Euro bis 119 Euro.

2. In den Gründen der Entscheidung heißt es:

Die Versicherungspflicht verletzt die Bf nicht in ihrem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Zwar greifen Pflichtmitgliedschaft und Beitragspflicht in der Alterssicherung der Landwirte in dieses Grundrecht ein. Dieser Eingriff ist jedoch formell und materiell mit der Verfassung vereinbar.

Für die Einführung einer Versicherungs- und Beitragspflicht für Landwirtsehegatten ist der Bund zuständig. Es handelt sich um eine Maßnahme der Sozialversicherung. Dass der Bund den Unterschiedsbetrag zwischen Einnahmen und Ausgaben durch einen Zuschuss aus Steuermitteln deckt, steht der Einstufung als Sozialversicherung nicht entgegen, obwohl dessen Höhe mittlerweile zwischen 70 und 75 v. H. der Leistungen beträgt. Bislang können die von den Versicherten geleisteten Beiträge jedenfalls als erheblicher Anteil an der Finanzierung angesehen werden, zumal die Höhe der späteren Leistungen an die Zahl der Beitragsmonate anknüpft. Der Gesetzgeber verfolgt ein legitimes Konzept, wenn er dem schutzbedürftigen Personenkreis der Ehegatten eines Landwirts den Erwerb eines eigenen Rentenanspruchs ermöglicht. Zudem gehört es zu den Aufgaben des Gesetzgebers, die Leistungsfähigkeit der Solidargemeinschaft sicherzustellen. Deshalb steht es grundsätzlich in seinem sozialpolitischen Ermessen, ob er die Finanzierung dieser Solidargemeinschaft durch Einbeziehung eines bisher unentgeltlich mitversicherten Personenkreises verbreitert.

Der mit der Einführung einer Beitrags- und Versicherungspflicht verbundene Eingriff in das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit ist verhältnismäßig. Die Einbeziehung der Ehegatten von Landwirten in die Versicherungspflicht war geeignet, einen wirksamen Beitrag zur Alterssicherung dieses Personenkreises zu leisten und die finanziellen Grundlagen der landwirtschaftlichen Alterskassen zu verbessern. Die Ehegatten von Landwirten bedurften ferner einer eigenständigen Sicherung für ihr Alter. Das bisherige Recht sicherte die Bäuerin nicht ausreichend ab. In aller Regel verfügte sie über keine eigene Rentenberechtigung. Die Einbeziehung der Landwirtsehegatten war auch angesichts des erheblichen Strukturwandels zur Erhaltung einer funktionsfähigen Alterssicherung in der Landwirtschaft erforderlich. Immer weniger Beitragszahlern standen erheblich angewachsene und weiter anwachsende Altersgeldaufwendungen gegenüber. Es ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die Beitragszahlerbasis verbreiterte und damit auch dem Interesse der schon länger Versicherten an bezahlbaren Beiträgen entsprach, zumal den neuen Mitgliedern die gleichen Leistungen gewährt werden wie den bereits Versicherten. Der Gesetzgeber durfte auch alle Landwirtsehegatten, auch die Ehegatten von Nebenerwerbslandwirten, in die Pflichtversicherung einbeziehen. Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass Landwirtsehegatten in den meisten Fällen im Betrieb mitarbeiten, beruht auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage. Er musste nicht auf eine tatsächliche Mitarbeit abstellen. Er durfte in typisierender und generalisierender Weise alle Ehegatten von Landwirten für schutzbedürftig halten. Die Gründe hierfür, die in den Besonderheiten landwirtschaftlicher Haushalte liegen, führt der Senat im Einzelnen aus. Der mit der Beitrags- und Versicherungspflicht verbundene Eingriff ist insbesondere den betroffenen Ehegatten zumutbar. Die Beiträge halten sich in einem Rahmen, den die Familieneinkommen tragen können. Selbst für die Gruppe der Ehepaare, die angesichts ihres Einkommens am stärksten belastet sind, beträgt der Gesamtjahresbeitrag eines Ehegatten nur knapp 15,3 v. H. der ihm zuzurechnenden Einkommenshälfte. Dies liegt unter den Beiträgen der in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherten selbstständig Tätigen von derzeit 19,5 v. H.. Diese Belastung verringert sich erheblich durch die staatlichen Beitragszuschüsse von gegenwärtig bis zu 60 v. H.. Die Beitragspflicht belastet auch nicht dadurch unverhältnismäßig, dass nach geltendem Recht die Beiträge des Ehegatten des Landwirts aus dem Einkommen des Landwirts zu bestreiten sind. Beide Ehegatten erhalten im Alter eine volle Rente. Diese jeweils eigenständige Versorgung im Alter rechtfertigt die zweifache Beitragslast. Das Beitragsrecht der landwirtschaftlichen Alterssicherung wird auch nicht dadurch verfassungswidrig, dass bei der Bemessung der staatlichen Beitragszuschüsse das gesamte Familieneinkommen, nicht nur das landwirtschaftliche, berücksichtigt wird. Eine grundgesetzwidrige Doppelbelastung des Ehemannes erwächst daraus nicht.

Auch die obligatorische Einbeziehung solcher Landwirtsehegatten in die Versicherungspflicht, die bereits 1995 mit einem Landwirt verheiratet waren, verstößt nicht gegen das Grundgesetz. Die Einbeziehung war erforderlich. Mit einer voraussetzungslosen Befreiungsmöglichkeit hätte der Gesetzgeber seine Ziele nicht erreicht. Die Mitgliederbasis der Alterskassen hätte sich nur sehr langsam verbreitert, so dass diese finanziell nicht ausreichend gefestigt worden wäre. Die Versicherungspflicht der Bestandsbäuerinnen ist zudem zumutbar. Auch der rechtsstaatliche Grundsatz des Vertrauensschutzes ist nicht verletzt. Sofern in der Einbeziehung der Bestandsbäuerinnen in die Alterssicherung überhaupt eine unechte Rückwirkung liegt, ist der damit verbundene Grundrechtseingriff gerechtfertigt. Ein überwiegendes schutzwürdiges Interesse der Landwirtsehegatten, in die Pflichtversicherung nicht einbezogen zu werden, bestand nicht. Unabhängig davon müsste auch ein schutzwürdiges Vertrauen der Betroffenen angesichts des Gewichts der Gemeinwohlgründe, die für die Einführung der Versicherungspflicht sprechen, zurücktreten.

Die Bf wird auch nicht in ihren Rechten aus dem allgemeinen Gleichheitssatz verletzt. Die Gleichbehandlung aller Landwirtsehegatten ohne Rücksicht auf ihre Mitarbeit im Betrieb und die Art des Betriebes als Haupt- oder Nebenerwerbslandwirtschaft ist aufgrund der bereits dargestellten Erwägungen gerechtfertigt. Der Gesetzgeber durfte sich auch dafür entscheiden, allein die Landwirtsehegatten im Unterschied zu den Ehegatten anderer selbstständig Tätiger in die sozialversicherungsrechtlich ausgestaltete Alterssicherung aufzunehmen. Landwirtsehegatten sind aus besonderen Gründen am Aufbau einer eigenen Altersversorgung gehindert.

Auch andere Grundrechte der Bf sind nicht verletzt. Insbesondere bleibt die Rüge ohne Erfolg, die landwirtschaftliche Alterssicherung sei wegen der zusätzlichen Belastung durch Erziehung und Unterhalt von Kindern eine verfassungswidrige "Familiendiskriminierung". Das Leistungs- und das Beitragsrecht der Alterssicherung der Landwirte genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 3 Abs.1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG. Ein Landwirtsehegatte hat aufgrund der Zeiten der Kindererziehung Zugang zur gesetzlichen Rente. Die vom Bundesverfassungsgericht für die soziale Pflegeversicherung entwickelten Grundsätze lassen sich hinsichtlich der Beitragsgestaltung nicht übertragen. Es fehlt schon an der Mindestgeschlossenheit des Systems. Die soziale Pflegeversicherung weist einen sehr hohen Versichertengrad auf. Wer in ihr versichert ist, kann davon ausgehen, dass die heute von Versicherten großgezogenen Kinder in diesem System in der Zukunft zu Beitragszahlern werden und die Finanzierung von Versicherungsleistungen, die er dann beansprucht, durch Beiträge sicherstellen. Diese Voraussetzung ist in der landwirtschaftlichen Alterssicherung nicht gegeben. Nur wenige der heute von beitragspflichtigen Landwirten erzogenen Kinder werden aller Voraussicht nach dort zu Beitragszahlern werden. Im Übrigen bleibt im Unterschied zur sozialen Pflegeversicherung die Erziehungsleistung des Landwirtsehegatten bei dessen Alterssicherung nicht unberücksichtigt.

Karlsruhe, den 14. Januar 2004