Bundesverfassungsgericht

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Landesrechtlich geregelte Straftäterunterbringung (so genannte nachträgliche Sicherungsverwahrung) verfassungswidrig

Pressemitteilung Nr. 11/2004 vom 10. Februar 2004

Urteil vom 10. Februar 2004
2 BvR 834/02

Die Gesetze der Länder Bayern und Sachsen-Anhalt zur Unterbringung von besonders rückfallgefährdeten Straftätern sind wegen Verstoßes gegen die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Strafrecht mit dem Grundgesetz unvereinbar. Dies entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil. Die Landesgesetze sind nach Maßgabe der Gründe bis zum 30. September 2004 anwendbar. Die in der Sache überwiegend erfolgreichen Verfassungsbeschwerden zweier aufgrund der Landesgesetze untergebrachter Straftäter wurden daher im Ergebnis zurückgewiesen. Die Entscheidung zu den Rechtsfolgen der Kompetenzwidrigkeit der landesrechtlichen Straftäterunterbringung ist mit fünf zu drei Stimmen, im übrigen einstimmig ergangen.

Wegen der den Verfassungsbeschwerde-Verfahren zugrundeliegenden Sachverhalte wird auf die Pressemitteilung Nr. 80/2003 vom 2. Oktober 2003 verwiesen.

In den Gründen der Entscheidung heißt es:

1. Die in den Straftäterunterbringungsgesetzen geregelte Materie ist Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes. Es handelt sich um Strafrecht im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. Zum Begriff des Strafrechts im Zusammenhang mit der Frage der Gesetzgebungszuständigkeit gehört die Regelung aller, auch nachträglicher, repressiver oder präventiver staatlicher Reaktionen auf Straftaten, die an die Straftat anknüpfen, ausschließlich für Straftäter gelten und ihre sachliche Rechtfertigung auch aus der Anlasstat beziehen. Dies ergibt eine an Wortlaut, Gesetzesgeschichte, Systematik und Normzweck orientierte Auslegung.

Schon unter der Weimarer Reichsverfassung wurde der Begriff des Strafrechts auch auf sichernde und vorbeugende Unrechtsfolgen bezogen. Der Grundgesetzgeber fand die Zweispurigkeit des Sanktionengefüges (Strafe und Maßregel) im Strafgesetzbuch vor; diese Zweispurigkeit blieb danach erhalten. Systematisch folgt die Zuordnung aller ausschließlich für Straftäter geltenden, ihre Rechtfertigung aus der Straftat beziehenden Sanktionen zur Zuständigkeitsnorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG aus dem Gedanken des Sachzusammenhangs. Der Sachzusammenhang zwischen Strafe und rein präventiver Sanktion hat folgenden Grund: Beide Arten von Sanktionen beziehen sich auf die Anlasstat. Die tatsächlichen Feststellungen zum Tathergang, zur Entstehung der Tat und zum Nachtatverhalten sind nicht nur für die Schuld- und Straffrage, sondern auch für die Gefahrenprognose entscheidungserheblich. An einem solchen Sachzusammenhang fehlt es dagegen, wenn Maßnahmen nicht nur gegenüber Straftätern, sondern auch gegenüber anderen Personen ergriffen werden können oder die Anlasstat nicht notwendige Bedingung einer Präventivmaßnahme ist.

2. Bei der Straftäterunterbringung nach dem Bayerischen Straftäterunterbringungsgesetz und dem Unterbringungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt handelt es sich um Strafrecht im Sinne des Art. 74 Abs.1 Nr.1 GG. Der landesrechtlichen Straftäterunterbringung geht es um eine nachträgliche präventive Sanktion, die ausschließlich für Straftäter gilt und ihre sachliche Rechtfertigung aus der Anlasstat bezieht. Die Anlasstat stellt einen weiterhin bestimmenden Faktor für die Gefahrenprognose als Voraussetzung der Unterbringung dar. Dieses Verständnis der Ermächtigungsnormen steht nicht in Widerspruch zu ihrem Wortlaut. Es entspricht dem Willen des Gesetzgebers, dem Gesetzeszweck sowie einer - aus Gründen des materiellen Verfassungsrechts unausweichlichen - verfassungskonformen Auslegung. Denn nur eine Prognosebasis, welche die Anlasstat als Prognosefaktor einschließt, könnte den weitreichenden Eingriff zeitlich unbestimmter Verwahrung unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen. Diese Zuordnung wird durch einen Vergleich mit der Sicherungsverwahrung des Strafgesetzbuchs bestätigt. Die Straftäterunterbringung weist sowohl verfahrensrechtlich als auch inhaltlich weitreichende Parallelen zur Sicherungsverwahrung auf. Diese enge Verbindung gebietet eine einheitliche kompetenzrechtliche Zuordnung

3. Die Länder sind nicht befugt, die Straftäterunterbringung zu regeln, denn der Bund hat von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz in diesem Bereich abschließend Gebrauch gemacht.

Dadurch hat der Bund die Verantwortung für dieses Rechtsgebiet vollständig übernommen. Der Bundesgesetzgeber hat das Recht der Sicherungsverwahrung im Strafgesetzbuch im Sinne des Art. 72 Abs. 1 GG abschließend geregelt. Hierzu war er auch im Rahmen des Art. 72 Abs. 2 GG befugt. Infolge dessen entfalten die Regelungen des Strafgesetzbuchs Sperrwirkung und stehen einer landesgesetzlichen Regelung der Materie entgegen. Der Regelungswille des Bundesgesetzgebers hat sich zuletzt in dem Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 niedergeschlagen. Dieses Gesetz sollte dem gesamten damals geäußerten Reformbedarf Rechnung tragen und verzichtete bewusst auf einen weitergehenden Ausbau der Maßregel der Sicherungsverwahrung. Der Bundesgesetzgeber wollte die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht in die Reform aufnehmen, weil er irrtümlich von einer Landesgesetzgebungszuständigkeit ausgegangen ist. Der Bund hat das Recht der Sicherungsverwahrung auch nicht nachträglich für eine Ergänzung seitens der Länder geöffnet. Eine derartige Öffnung hätte einer bundesgesetzlichen Grundlage bedurft.

4. Das Fehlen einer Gesetzgebungskompetenz der Länder führt nicht zur Nichtigkeit der beanstandeten Gesetze. Sie sind vielmehr unvereinbar mit dem Grundgesetz.

Der Zweite Senat ordnet die Fortgeltung der Landesgesetze bis zum 30. September 2004 an. Eine solche Rechtsfolge kommt in Betracht, wenn die sofortige Ungültigkeit der zu beanstandenden Norm dem Schutz überragender Güter des Gemeinwohls die Grundlage entziehen würde und eine Abwägung mit den betroffenen Grundrechten ergibt, dass der Eingriff für eine Übergangszeit hinzunehmen ist. Das ist hier der Fall.

Im Falle der Nichtigerklärung wäre die Entlassung aller auf der Grundlage der für nichtig erklärten Normen Untergebrachten unausweichlich. Damit müssten Personen in die Freiheit entlassen werden, für die aufgrund jeweils zweier Sachverständigengutachten gerichtlich festgestellt ist, dass von ihnen eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der Person oder die Selbstbestimmung anderer ausgeht. In den gerichtlichen Unterbringungsentscheidungen wurden die festgestellten Gefahren anhand bestimmter Einzelfälle konkretisiert. Deshalb ist auch die Pflicht des Staates, die Bürger vor derartigen Gefahren zu schützen, über die allgemeine, weitgehend in das politische Ermessen gestellte staatliche Verpflichtung zur Kriminalitätsbekämpfung hinaus konkretisiert und individualisiert. Die Entlassung gegenwärtig, konkret und hochgradig gefährlicher Personen müsste im Falle der Nichtigerklärung erfolgen, ohne dass der - fälschlich von seiner Unzuständigkeit ausgehende - Bundesgesetzgeber die ihm obliegende Entscheidung über die Notwendigkeit bundesgesetzlicher Regelungen getroffen hat. Dem Bundesgesetzgeber wäre die Möglichkeit, aufgrund seiner nunmehr feststehenden Kompetenz über die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung zum Schutz vor weiteren Straftaten dieser Betroffenen zu entscheiden und die etwa für notwendig gehaltenen Regelungen zu erlassen, genommen.

Die Freiheit der Person nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Die zur Prüfung gestellten Unterbringungsgesetze müssen sich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Dies führt zu einer verfassungskonformen Auslegung der Anordnungsvoraussetzungen, die während der Fortgeltung der Regelung zu beachten ist. Außerdem dürfen die Betroffenen schon in der Übergangszeit nicht schlechter stehen als solche Straftäter, gegen die Sicherungsverwahrung auf der Grundlage des Strafgesetzbuchs vollzogen wird. Die Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung werden in der Entscheidung im Einzelnen ausgeführt. Die Vollstreckungsgerichte werden unverzüglich zu prüfen haben, ob bereits aufgrund der Landesgesetze angeordnete Unterbringungen auch bei verfassungskonformer Auslegung der Anordnungsgrundlagen aufrecht erhalten werden können. Insoweit verdichtet sich ihr durch die landesrechtlichen Ermächtigungsnormen eingeräumtes Ermessen, die Erforderlichkeit der weiteren Unterbringung jederzeit zu überprüfen, zu einer Überprüfungspflicht.

5. Der Richter Broß, die Richterin Osterloh und der Richter Gerhardt haben der Entscheidung eine abweichende Meinung angefügt.

Die Unvereinbarkeit der Landesgesetze mit dem Grundgesetz hätte zu ihrer Nichtigerklärung und damit zum Erfolg der Vb führen müssen. Gegen den von der Mehrheit angelegten Prüfungsmaßstab bestehen grundlegende rechtsstaatliche Bedenken. Eine Weitergeltungsanordnung, die die mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit verbundene Anwendungssperre überwindet, kommt nur aus zwingenden verfassungsrechtlichen Gründen in Betracht. Zudem muss das Bundesverfassungsgericht zu ihrer Anordnung überhaupt berechtigt sein. An beiden Voraussetzungen fehlt es.

Verfassungsrechtliche Gründe für eine Weitergeltung der angegriffenen Normen könnten alleine in der Verletzung des Untermaßverbotes liegen. Von einer Verletzung der staatlichen Pflicht zum Schutz anderer Menschen vor hochgefährlichen Straftätern geht nicht einmal die Senatsmehrheit aus. Auch ohne Fortgeltung der verfassungswidrigen Unterbringungsgesetze stehen den Ländern geeignete Instrumente zur Verfügung, um selbst in besonders problematischen Einzelfällen ggf. mit erhöhtem personellen Aufwand effektive Gefahrenabwehr zu betreiben.

Die Senatsmehrheit sieht die staatliche Schutzpflicht über die allgemeine Verpflichtung zur Kriminalitätsbekämpfung hinaus als konkretisiert und individualisiert an. Der damit suggerierte Handlungsbedarf besteht aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht und kann eine Fortdauer von Freiheitsentziehungen nicht rechtfertigen. Der zuständige und deshalb allein demokratisch legitimierte Bundesgesetzgeber hat abschließend und eindeutig entschieden, die mit der Freilassung von Straftätern nach langjähriger Haft in bestimmten wenigen Fallkonstellationen verbundenen und bekannten Risiken hinzunehmen. Über diese auch das Bundesverfassungsgericht bindende Entscheidung setzt sich die Senatsmehrheit hinweg und macht sich die abweichende, die Bundesgesetzgebung "nachbessernde" politische Risikobewertung der Landesgesetzgebung zu eigen.

Die Weitergeltungsanordnung ist mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar. Danach kann die Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die Weitergeltungsanordnung beruht auf Gewohnheitsrecht und rechtfertigt Freiheitsentziehungen wohl überhaupt nicht. Keinesfalls kommt sie für die Straftäterunterbringungsgesetze der Länder in Betracht, weil der Bundesgesetzgeber die Freiheitsentziehung als Folge von Straftaten abschließend geregelt hat.

Schließlich liegt ein Verstoß gegen das allgemeine Rückwirkungsverbot vor. Hat der Betroffene seine Strafe verbüßt und ist auch eine etwaige freiheitsentziehende Maßregel erledigt, so ist der durch die Anlasstat gesetzte Sachverhalt abgeschlossen. Die Länder haben in abgewickelte Tatbestände eingriffen. Dieser rückwirkende Eingriff war unzulässig und insbesondere nicht durch die Annahme zu rechtfertigen, dass die Betroffenen weiterhin gefährlich seien. Mit der Weitergeltungsanordnung wird dieser Eingriff - wenn auch nur befristet - fortgesetzt.

Karlsruhe, den 10. Februar 2004