Bundesverfassungsgericht

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Verfassungsbeschwerde gegen § 3 a Wohnortzuweisungsgesetz erfolglos

Pressemitteilung Nr. 32/2004 vom 17. März 2004

Urteil vom 17. März 2004
1 BvR 1266/00

Es ist mit dem Grundrecht auf Freizügigkeit vereinbar, dass Spätaussiedler, die an einem anderen als dem ihnen zugewiesenen Ort ständigen Aufenthalt nehmen, grundsätzlich keine Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz erhalten. Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil und wies die Verfassungsbeschwerde (Vb) zweier Spätaussiedler (Beschwerdeführer; Bf) zurück. Die angegriffenen Gerichtsentscheidungen beruhen auf einer verfassungsgemäßen Rechtsgrundlage und haben Bestand. Der Senat hält allerdings den gegenwärtigen Rechtszustand, was die Möglichkeit einer Abänderung der Zuweisung betrifft, nicht für verfassungsgemäß.

Wegen des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts wird auf die Pressemitteilung Nr. 85/2003 vom 16. Oktober 2003 verwiesen.

In den Gründen der Entscheidung heißt es:

Die Zulässigkeit der Vb scheitert insbesondere nicht am Subsidiaritätsgrundsatz. Die Bf hatten zwar weder gegen die der Ablehnung der Sozialhilfe vorausgegangene Zuweisung noch gegen die ablehnende Entscheidung über ihren Antrag auf Abänderung der Zuweisung den Rechtsweg beschritten. Dies konnte von ihnen in ihrer konkreten Lebenssituation aber auch nicht verlangt werden. So befanden sich zum Zeitpunkt der Zuweisung die der deutschen Sprache kaum mächtigen Bf in einem für sie unbekannten Land und waren ohne Möglichkeit rechtlicher Beratung. Über die rechtliche Bedeutung der Zuweisung und die Folgen einer abweichenden Wohnsitzwahl waren sie nicht informiert. Anlass für einen Umzug hatten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Den Bf kann unter den besonderen Umständen des konkreten Falls auch nicht entgegengehalten werden, dass sie gegen die Ablehnung ihres Antrags auf Abänderung der Zuweisung den Rechtsweg nicht beschritten haben. Insoweit ist die Entscheidung mit 7:1 Stimmen ergangen.

Die Vb bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg.

Die angegriffene Regelung verletzt die Bf nicht in ihrem Grundrecht auf Freizügigkeit. Zwar beeinträchtigt der von § 3a Wohnungszuweisungsgesetz 1996 (WoZuG 1996) bewirkte Ausschluss von der Hilfe zum Lebensunterhalt das Freizügigkeitsgrundrecht der Bf. Die Regelung knüpft für Sozialhilfebezieher an die Ausübung des Grundrechts der Freizügigkeit einen wirtschaftlich spürbaren Nachteil, um damit den Inhaber des Grundrechts an den Zuweisungsort zu binden. Dies beeinträchtigt mittelbar zielgerichtet das Grundrecht der Freizügigkeit. Die Beeinträchtigung des Grundrechts aus Art. 11 Abs. 1 GG ist jedoch verfassungsgemäß. Art. 11 Abs. 2 GG ermöglicht dem Gesetzgeber, das Grundrecht auf Freizügigkeit zu beschränken, wenn unterstützungsbedürftige Personen in anhaltend großer Zahl in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und Bund, Ländern und Gemeinden daraus erhebliche Lasten der Unterbringung, Unterstützung und Eingliederung erwachsen. Solche besonderen Lasten sind der Allgemeinheit durch den Zuzug der Spätaussiedler in die Bundesrepublik Deutschland entstanden. Im Zeitraum ab 1987 sind insgesamt drei Millionen Aussiedler und Spätaussiedler in die Bundesrepublik eingewandert.

Die angegriffene Regelung ist auch verhältnismäßig. Sie ist geeignet, die vom Gesetz angestrebte angemessene Lastenverteilung zu erreichen. Auf Grund der Angaben der Bundesregierung, der Länder und des Deutschen Städtetages werden die Zuweisungen seit dem In-Kraft-Treten der Vorschrift im Jahr 1996 befolgt. Es seien keine neuen Siedlungsschwerpunkte für Spätaussiedler entstanden. Die Sozialhilfelasten verteilten sich gleichmäßig. Den Gemeinden sei eine vorausschauende Planung ihrer infrastrukturellen und integrativen Maßnahmen möglich. Der Gesetzgeber hält die Zuweisung und ihre Durchsetzung mit sozialhilferechtlichen Mitteln für geeignet, die Integration der Spätaussiedler zu fördern. Diese Einschätzung des Gesetzgebers ist angesichts des ihm zustehenden weiten Einschätzungsspielraumes nicht zu beanstanden. Er muss aber die weitere Entwicklung und insbesondere die Auswirkungen der Regelung beobachten und diese gegebenenfalls für die Zukunft korrigieren. Die angegriffene Regelung ist auch erforderlich. Es ist kein Weg ersichtlich, der die Spätaussiedler weniger belasten, die genannten Ziele aber gleichermaßen erreichen würde. Seinen Einschätzungsspielraum bei der Bestimmung der Dauer der Zuweisungszeit hat der Gesetzgeber im Falle der Bf noch nicht überschritten. Ein übergemeindliches finanzielles Erstattungssystem würde dem Prinzip der Lastenverteilung, das dem Wohnortzuweisungsgesetz zu Grunde liegt, nur hinsichtlich der Sozialhilfekosten, nicht aber hinsichtlich der weiteren infrastrukturellen Folgelasten der Unterbringung, Unterstützung und Eingliederung Rechnung tragen. Es sei zudem sehr aufwändig.

Die zeitlich befristete Zuweisung an einen bestimmten Wohnort ist den betroffenen Spätaussiedlern auch zumutbar. Die durch sie bewirkte Grundrechtsbeeinträchtigung steht bei einer Gesamtabwägung in einem angemessenen Verhältnis zu den der Allgemeinheit aus der Regelung erwachsenden Vorteilen. Zwar wird die Freizügigkeit der betroffenen Spätaussiedler erheblich beeinträchtigt. Die angegriffene Regelung schließt Umzüge der regelmäßig auf öffentliche Hilfe angewiesenen Spätaussiedler praktisch aus. Die Sperre dauert mehrere Jahre an. Die für die kommunalen Gebietskörperschaften festgelegten Aufnahmequoten haben weitgehend Vorrang vor individuellen Zuweisungswünschen. Die meist vorhandenen Bindungen an die Großfamilie, bestimmte Glaubensgruppen oder die frühere Dorfgemeinschaft sind davon betroffen. Dem steht mit dem Ziel der Lastenverteilung ein gewichtiger Gemeinwohlbelang gegenüber. Das mit der Zuweisung angestrebte Ziel der Integration soll auch den Betroffenen selbst zugute kommen. Die Zuweisung ist zeitlich begrenzt. Findet der Spätaussiedler an einem andern Ort als dem zugewiesenen eine Vollzeitstelle und Wohnraum, so endet die Bindung. Die Arbeitssuche außerhalb der zugewiesenen Gemeinde ist zudem seit der Änderung des Wohnortzuweisungsgesetzes im Jahr 2000 erleichtert.

Die Bf sind auch in ihren Gleichheitsrechten nicht verletzt. Spätaussiedler werden durch die angegriffene Regelung nicht wegen ihrer Heimat oder Herkunft benachteiligt. Die Zuweisung und ihre Durchsetzung knüpfen an einen Sozialhilfebedarf an. Dies ist gleichheitsrechtlich unbedenklich. Auch der allgemeine Gleichheitssatz ist nicht verletzt. Die Ungleichbehandlung gegenüber anderen sozialhilfebedürftigen Deutschen ist durch den besonderen Eingliederungsbedarf der fast drei Millionen Spätaussiedler hinreichend gerechtfertigt. Auch soweit sozialhilfebedürftige Ausländer besser gestellt sind als Spätaussiedler, ist dies hinreichend gerechtfertigt. Spätaussiedler, die bislang einzige große Gruppe von Zuwanderern mit allgemeinen und übereinstimmenden Merkmalen, haben einen Anspruch auf Einreise nach Deutschland und ein dauerhaftes Bleiberecht. Dies unterscheidet sie und ihre Eingliederungsprobleme von Ausländern ohne den Status des EU-Bürgers und von Asylberechtigten.

Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass der Gesetzgeber durch Art. 11 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gehalten ist, eine Abänderung der Zuweisung auf Antrag unter von ihm näher zu bestimmenden Voraussetzungen zu ermöglichen. Eine solche Regelung für eine Abänderung der Zuweisung existiert bislang nicht. Über einen solchen Antrag muss nach Auffassung des Senats in einem Verwaltungsverfahren entschieden werden, das rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht.

Karlsruhe, den 17. März 2004