Bundesverfassungsgericht

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Verfassungsbeschwerde gegen Anordnung einer mehrtägigen stationären Nachtschlafuntersuchung erfolgreich

Pressemitteilung Nr. 58/2004 vom 15. Juni 2004

Beschluss vom 21. Mai 2004
2 BvR 715/04

Ein 81jähriger Beschwerdeführer (Bf), gegen den ein Ermittlungsverfahren wegen mehrerer Vergewaltigungen geführt wird, hatte mit seiner Verfassungsbeschwerde (Vb) gegen die richterliche Anordnung einer stationären Untersuchung auf seine Erektionsfähigkeit für eine Dauer von mehreren Tagen Erfolg. Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Entscheidungen des Oberlandesgerichts (OLG) und des Landgerichts (LG) Köln aufgehoben und die Sache an das LG zurückverwiesen.

1. Zum Sachverhalt:

Der Bf bestreitet im Ermittlungsverfahren die ihm vorgeworfenen Vergewaltigungen. Er leide seit mehreren Jahren an Diabetes und sei krankheitsbedingt erektionsunfähig. Das LG ordnete vor der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens ohne Begründung die stationäre Untersuchung des Bf für eine Dauer von bis zu sieben Tagen auf seine Erektions- und Ejakulationsfähigkeit an. Auf die Beschwerde des Bf beschränkte das OLG die Untersuchung auf die Erektionsfähigkeit des Bf und reduzierte die Dauer der stationären Untersuchung auf maximal drei Tage.

Die Vb richtet sich gegen beide Entscheidungen. Der Bf sieht sich insbesondere in seinem Grundrecht auf Unverletzlichkeit seiner persönlichen Freiheit verletzt.

2. In den Gründen der Entscheidung heißt es:

Bei der Anordnung der stationären Untersuchung des Bf wurden die Tragweite des Grundrechts auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verkannt und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit außer Acht gelassen.

Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss die Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich sein und darf der mit ihr verbundene Eingriff nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des Tatverdachts stehen. Eine dem Sinn der Grundrechte Rechnung tragende Gesetzesanwendung erfordert, dass bei der einzelfallbezogenen Sachverhaltswürdigung die Stärke des Tatverdachts berücksichtigt wird. Auch begründete Zweifel am Beweiswert der Maßnahme sind in diese Prüfung einzustellen, denn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fordert im Strafverfahren, dass die Maßnahme unerlässlich ist.

Nach diesen Maßstäben hält die Entscheidung des OLG einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht Stand. Inhalt und Tragweite des Übermaßverbots wurden verkannt; es fehlt an einer Würdigung aller Umstände sowie einer Prüfung der Unerlässlichkeit der Maßnahme. Darüber hinaus hätten sich dem OLG auch angesichts der Angaben des Sachverständigen Zweifel am zu erwartenden Ertrag der Untersuchung zur Aufklärung der Erektionsfähigkeit des Bf aufdrängen und ebenfalls im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung berücksichtigt werden müssen. Bereits die Angaben des mit der Untersuchung beauftragten Sachverständigen zur Bedeutung der Mitwirkung des Bf waren widersprüchlich. Diesen Widerspruch hat das Oberlandesgericht nicht aufgelöst. Hinzu kommt, dass in der Klinik des Sachverständigen bislang keine entsprechende Untersuchung gegen den Willen des zu Begutachtenden stattgefunden hat, so dass es dem Sachverständigen insoweit an Erfahrungswerten mangeln könnte. Außerdem hätte die vom Bf angekündigte Weigerung, in der Klinik zu schlafen, den Erfolg der Untersuchung negativ beeinflussen können. Auch damit setzt sich das OLG nicht auseinander.

Soweit die Entscheidung des LG nicht bereits durch das OLG aufgehoben worden ist, verstößt sie ebenfalls gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Denn die bloße Begründung, die Untersuchung sei angesichts der Einlassung des Bf erforderlich, lässt eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gänzlich vermissen.

Karlsruhe, den 15. Juni 2004