Bundesverfassungsgericht

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Zur unentgeltlichen Rechtsberatung durch einen berufserfahrenen Juristen

Pressemitteilung Nr. 76/2004 vom 5. August 2004

Beschluss vom 29. Juli 2004
1 BvR 737/00

Die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines pensionierten Richters (Beschwerdeführer; Bf), der sich gegen eine Verurteilung zu einer Geldbuße wegen unerlaubter geschäftsmäßiger Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten zur Wehr setzte, war erfolgreich. Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die der Verurteilung zugrunde liegenden Entscheidungen des Oberlandesgerichts (OLG) Braunschweig und des Amtsgerichts (AG) Braunschweig aufgehoben, weil sie den Bf in seinem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes verletzen. Die Sache wird an das AG zurückverwiesen.

Zum Sachverhalt:

Der Bf wurde in einem vor dem Amtsgericht durchgeführten Bußgeldverfahren von dem Gericht als Wahlverteidiger eines Betroffenen zugelassen. Nach Abschluss dieses Verfahrens zeigte sich der Bf bei der Staatsanwaltschaft selbst an. Er habe nicht nur in dem vorliegenden Verfahren, sondern auch in der Vergangenheit "häufig und in großem Umfang" rechtsbesorgende Tätigkeiten ausgeübt und wiederholt "andere Bürger in Rechtssachen eingehend individuell beraten". Eine Genehmigung nach dem Rechtsberatungsgesetz besitze er nicht. Er werde derartige Rechtsbesorgungen auch in Zukunft übernehmen. Wegen einer Ordnungswidrigkeit nach dem Rechtsberatungsgesetz wurde eine Geldbuße in Höhe von DM 600,-- gegen ihn verhängt. Rechtsmittel blieben ohne Erfolg.

Mit seiner Vb rügt der Bf unter anderem die Verletzung seiner allgemeinen Handlungsfreiheit. Die von ihm unentgeltlich übernommenen Rechtsbesorgungen seien nicht geschäftsmäßig im Sinne des Rechtsberatungsgesetzes erfolgt. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben bei der Auslegung des Begriffs der Geschäftsmäßigkeit seien bei seiner Verurteilung nicht hinreichend berücksichtigt worden.

In den Gründen der Entscheidung heißt es:

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Erlaubnisvorbehalt für die Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten nach dem Rechtsberatungsgesetz verfassungsgemäß. Das Rechtsberatungsgesetz dient dem Schutz des Rechtsuchenden sowie der geordneten Rechtspflege. Zur Erreichung dieser Zwecke ist es erforderlich und angemessen. Die angegriffenen Gerichtsentscheidungen genügen jedoch nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die sich aus dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben. Was geschäftsmäßige Rechtsberatung im Sinne des Rechtsberatungsgesetzes ist, muss im Einzelfall abgeklärt werden. Bei der Gesetzesauslegung und der Rechtsanwendung sind sowohl die durch das Rechtsberatungsgesetz geschützten Belange wie auch die Freiheitsrechte des Einzelnen zum Ausgleich zu bringen.

Das Rechtsberatungsgesetz unterliegt wie andere Gesetze auch einem Alterungsprozess. Mit dem Wandel des Umfelds sozialer Verhältnisse und gesellschaftspolitischer Anschauungen kann sich auch der Norminhalt ändern. Deshalb müssen die Gerichte prüfen, ob die gesetzliche Regelung zwischenzeitlich lückenhaft geworden ist. Die Bindung des Richters an das Gesetz bedeutet nicht Bindung an dessen Buchstaben, sondern Gebundensein an Sinn und Zweck des Gesetzes. Bei mehreren Deutungsmöglichkeiten einer Norm ist diejenige zu bevorzugen, die den Wertentscheidungen der Verfassung entspricht. Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit ist insbesondere dann verletzt, wenn die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts die grundrechtliche Freiheit unverhältnismäßig einschränkt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zwar grundsätzlich nicht nachzuprüfen. Bei Auslegungsfehlern in einer Entscheidung jedoch, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere von dessen Tragweite, beruhen, hat das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Verfassungsrecht zu korrigieren.

Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben halten die angegriffenen Entscheidungen nicht stand. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wurde nicht hinreichend beachtet. Die Gerichte haben bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des Rechtsberatungsgesetzes nicht erwogen, ob der Begriff der "Geschäftsmäßigkeit" unter Berücksichtigung der durch das Rechtsberatungsgesetz geschützten Interessen und des Grundrechts des Bf auf allgemeine Handlungsfreiheit von Verfassungs wegen im konkreten Fall eine Auslegung erfordert, die die unentgeltliche Rechtsbesorgung durch einen berufserfahrenen Juristen nicht erfasst. Die Schutzzwecke des Rechtsberatungsgesetzes werden durch die rechtsbesorgende Tätigkeit des Bf möglicherweise nicht berührt. Dies legen bislang nicht beachtete konkrete Umstände nahe.

So blieb ungeprüft, ob ein Verbot der einzelnen vom Bf übernommenen Rechtsbesorgungen geeignet und notwendig gewesen ist, um die durch das Rechtsberatungsgesetz geschützten Rechtsgüter zu wahren, und ob weniger belastende Maßnahmen dazu ausgereicht hätten. Die Auslegung des Begriffs der Geschäftsmäßigkeit im Sinne der ständigen Rechtsprechung der Fachgerichte wird den besonderen Umständen des vorliegenden Einzelfalls nicht gerecht. Angesichts der beruflichen Vorbildung des Bf, seiner langjährigen Erfahrung in verschiedenen juristischen Tätigkeitsfeldern sowie der konkreten Umstände, unter denen er jeweils rechtsbesorgend tätig geworden ist, ist fraglich, ob die Schutzzwecke des Rechtsberatungsgesetzes überhaupt berührt sind. Weiter wäre zu prüfen, ob in Anbetracht der Zulassung des Bf als Verteidiger und seiner juristischen Qualifikation den durch das Rechtsberatungsgesetz geschützten Rechtsgütern nicht bereits hinreichend Rechnung getragen worden ist.

Ungeprüft blieb bislang weiter, ob in der Zwischenzeit eine Veränderung der Lebenswirklichkeit eingetreten ist, die das Rechtsberatungsgesetz ergänzungsbedürftig und zugleich ergänzungsfähig hat werden lassen. Der Wortlaut der Regelung des Rechtsberatungsgesetzes über den Erlaubnisvorbehalt könnte im konkreten Fall über den Sinn und Zweck des Gesetzes hinausgehen, so dass von Verfassungs wegen eine einschränkende Auslegung geboten ist.

Karlsruhe, den 5. August 2004