Bundesverfassungsgericht

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Sitzverteilung im Vermittlungsausschuss

Pressemitteilung Nr. 110/2004 vom 8. Dezember 2004

Urteil vom 08. Dezember 2004
2 BvE 3/02

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat in dem von der CDU/ CSU- Fraktion (Antragsteller; ASt) gegen den Deutschen Bundestag (Antragsgegner; Ag) gerichteten Organstreitverfahren mit heute verkündetem Urteil den Ag verpflichtet, noch innerhalb der 15. Wahlperiode erneut über eine proportionalitätsgerechtere Sitzverteilung auf der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses zu beschließen. Allerdings war zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des Deutschen Bundestages am 30. Oktober 2002 der Ag im Interesse einer funktionierenden Gesetzgebung zu einer raschen Besetzung des Vermittlungsausschusses genötigt, weswegen es schon an zeitlichen Möglichkeiten fehlte, eine ausgewogene Neuregelung möglichst im Konsens aller Fraktionen für eine neu sich ergebende Frage der proportionalen Sitzverteilung zu schaffen.

Wegen der Einzelheiten des dem Organstreitverfahren zu Grunde liegenden Sachverhalts wird auf die Pressemitteilung Nr. 41/2004 vom 8. April 2004 verwiesen.

In den Gründen der Entscheidung heißt es:

1. Das Grundgesetz geht vom Grundsatz der Freiheit und Gleichheit des Abgeordnetenmandats aus. Die Wahlgleichheit darf nicht nach dem Wahlakt sogleich wieder verloren gehen, sie muss sich vielmehr im Status und der Tätigkeit des Abgeordneten fortsetzen. Der organisatorische Zusammenschluss zu Fraktionen führt nicht zum Verlust der Freiheit und Gleichheit des Abgeordneten. Die Fraktionen sind als politische Kräfte ebenso gleich und entsprechend ihrer Stärke zu behandeln wie die Abgeordneten untereinander. Nach dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit hat auch der Parlamentsausschuss die Zusammensetzung des Plenums nach der Stärke der Fraktionen verhältnismäßig abzubilden. Die Zuweisung von Ausschusssitzen nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen bedarf, da nur ganze Sitze verteilt werden können, des Einsatzes von Zählverfahren, die in eingeschränktem Umfang zu Abweichungen im Zuweisungsergebnis führen können.

Dem verfassungsrechtlich anerkannten Bedürfnis nach Abbildung der parlamentarischen Regierungsmehrheit kann bei der Besetzung der Ausschüsse des Bundestages in gewissem Umfang durch Vergrößerung oder Verkleinerung der Zahl der Mitglieder Rechnung getragen werden, so dass sich Pattsituationen zwischen Regierungsmehrheit und oppositioneller Minderheit bei Anwendung herkömmlicher Zählverfahren und damit der Konflikt zwischen der Abbildung der parlamentarischen Regierungsmehrheit und dem Repräsentations- und Proportionalitätsprinzip weitgehend vermeiden lassen.

Dies ist beim Vermittlungsausschuss, der ein in der Verfassung vorgesehenes ständiges und gemeinsames Unterorgan von Bundestag und Bundesrat ist, jedoch nicht ohne weiteres möglich. Der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit gilt auch für die Wahl der Mitglieder des Bundestages im Vermittlungsausschuss. Der Vermittlungsausschuss soll ein konkretes Gesetzgebungsverfahren zu einem positiven Abschluss bringen, indem entweder der Einspruch des Bundesrates vermieden oder die zunächst nicht erteilte Zustimmung zu einem Gesetzesbeschluss des Bundestages herbeigeführt wird. Der Bundesrat besetzt die ihm in diesem Ausschuss zustehenden 16 Sitze unabhängig vom unterschiedlichen Stimmgewicht der Länder mit je einem Vertreter jedes Landes. Der Bundestag hingegen bleibt an das Repräsentationsprinzip gebunden: Die Bundestagsbank ist nicht etwa ein verkleinertes Abbild der die Regierung tragenden Parlamentsmehrheit oder gar Repräsentant der Regierung, sondern ein verkleinertes Abbild des ganzes Bundestages in seinem durch die Fraktionen geprägten und auf die Volkswahl zurückgehenden politischen Stärkeverhältnis.

Der Vermittlungsausschuss hat im Gesetzgebungsverfahren eine herausgehobene und in gewissem Umfang verselbstständigte Stellung. Denn er begrenzt die Autonomie von Bundestag und Bundesrat zur konkreten Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens in mehrfacher Hinsicht, was in der Entscheidung im Einzelnen ausgeführt wird. Der für die Besetzung der Bundestagsbank im Vermittlungsausschuss prägende Grundsatz der Spiegelbildlichkeit gilt nicht uneingeschränkt. Er muss im Konfliktfall mit dem Prinzip stabiler parlamentarischer Mehrheitsbildung zu einem schonenden Ausgleich gebracht werden. Bundestagsausschüsse müssen deshalb zwar personell dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit gehorchen, Abweichungen sind aber in begrenztem Umfang gerechtfertigt, wenn in dem verkleinerten Gremium nur dadurch Sachentscheidungen ermöglicht werden, die eine realistische Aussicht haben, mit dem Willen einer im Plenum bestehenden politischen "Regierungsmehrheit" übereinzustimmen. Aus Funktion und Aufgaben des Vermittlungsausschusses ergibt sich nicht, dass sich seine Besetzung am Mehrheitsprinzip in einem Umfang ausrichten müsste, dass der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit im Zweifel zu weichen hätte. Für eine nur eingeschränkte Prägekraft des Mehrheitsprinzips sprechen zum einen die in der Entscheidung näher dargestellten besonderen Funktionsbedingungen des Vermittlungsausschusses, zum anderen die verfahrensrechtlichen Regelungen in der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses über die Abstimmung und zum Entscheidungsquorum. Der verfassungsrechtliche Auftrag des Vermittlungsausschusses liegt darin, zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat einen substantiellen Ausgleich widerstreitender Positionen im Gesetzgebungsverfahren herbeizuführen. Dieser vermittelnde Prozess soll in möglichst geringem Maße formalisiert werden, insbesondere sollte es auf die personelle Vertretung der im Gesetzgebungsverfahren beteiligten Standpunkte ankommen. Auch die Vermeidung so genannter "unechter Vermittlungsergebnisse" gebietet nicht die kategorische Bevorzugung des Mehrheitsprinzips.

2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen ist der angegriffene Beschluss noch gerecht geworden.

Die vom Ag gewählte Lösung, den im Zählverfahren unberücksichtigt gelassenen Sitz auf der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses der stärksten Fraktion zuzuweisen, ist zwar mit dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit grundsätzlich unvereinbar. Der angegriffene Beschluss weicht hinsichtlich der beiden stärksten Fraktionen im Bundestag nicht unerheblich vom Grundsatz der Spiegelbildlichkeit ab. Nach dem danach vorgesehenen Verfahren steht hinter jedem Sitz auf der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses eine deutlich voneinander abweichende Zahl von Mandaten, obwohl nach dem Ergebnis der Wahlen zum Deutschen Bundestag vom 22. September 2002 die stärkste Fraktion (SPD) über einen Stimmenanteil von 41,63% und die zweitstärkste Fraktion (CDU/ CSU) über einen Gesamtstimmenanteil von 41,13% verfügen. Dies führt zu einer erheblichen Erfolgswertungleichheit bei der Umrechnung von Mitgliederzahlen der Fraktionen in Vorschlagsrechte für die Besetzung der Bundestagsbank. Die tatsächlichen politischen Kräfteverhältnisse im Plenum des Bundestages werden damit auf der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses nicht mehr in einem noch akzeptablen Umfang wiedergegeben. Eine Abweichung vom Grundsatz der Spiegelbildlichkeit kann dem Grunde nach jedoch durch das Mehrheitsprinzip nach den oben dargelegten Maßstäben gerechtfertigt sein. Mit den herkömmlichen Zählverfahren konnte nicht beiden Grundsätzen Rechnung getragen werden. Deshalb konnte der Ag vorläufig einen Korrekturfaktor der umstrittenen Art mit Mehrheitsbeschluss durchsetzen. Der Ag ist allerdings verpflichtet, unverzüglich und unter Ausschöpfung der in Geschäftsordnungsangelegenheiten üblichen Kooperation zwischen allen Fraktionen des Bundestages einen Beschluss über eine proportionalitätsgerechtere Sitzverteilung auf der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses vorzubereiten und zeitnah zu fassen. In Betracht kommt auch, die Geschäftsordnung des Bundestages unter Beachtung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Grundsätze zu ändern. Eine solche Neuentscheidung ist nicht deshalb entbehrlich, weil es ersichtlich keinen anderen Ausgleich zwischen den betroffenen Verfassungsprinzipien gäbe. Das Fehlen alternativer Gestaltungsmöglichkeiten ist jedenfalls nicht offensichtlich.

3. Die Richterin Osterloh und der Richter Gerhardt haben der Entscheidung eine abweichende Meinung angefügt.

Sie sehen den verfassungsrechtlichen Mangel des angegriffenen Bundestagsbeschlusses nicht in dem Entscheidungsergebnis, sondern in dem ihm zu Grunde liegenden Vorgang der Willensbildung. Auf Grund seiner Geschäftsordnungsautonomie ist es Sache des Bundestages, näher zu bestimmen, auf welche Weise seine Mitglieder an der parlamentarischen Willensbildung mitwirken und welche Befugnisse die Fraktionen bei der Ausgestaltung des parlamentarischen Verfahrens haben. Das Parlament hat bei Selbstorganisationsregelungen einen - allgemein weiten - Gestaltungsspielraum, der verfassungsgerichtlich nur beschränkt überprüfbar ist. Geschäftsordnungsentscheidungen wirken allerdings auf die Rechte der Abgeordneten ein. Der Bundestag muss deshalb bei der Wahrnehmung seiner Geschäftsordnungsautonomie alle Möglichkeiten umfassend würdigen, die für den verfassungsrechtlich gebotenen schonenden Ausgleich der kollidierenden Grundsätze in der konkreten Situation ernsthaft in Betracht zu ziehen sind. Er kann andere Lösungen zurücksetzen und sich letztlich für eine vorrangig am Mehrheitsprinzip orientierte Regelung entscheiden. Ob der Bundestag die gebotene Abwägung vorgenommen hat, ist verfassungsgerichtlich überprüfbar.

Der Beschluss vom 30. Oktober 2002 genügt nicht den Anforderungen an die Willensbildung des Bundestages. Der Ag hat einseitig auf das Mehrheitsprinzip abgestellt, andere Gestaltungen nicht erörtert und damit bei seinen Verhandlungen erkennbar nicht im gebotenen Umfang nach einem schonenden Ausgleich zwischen dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit und dem Mehrheitsprinzip gesucht. Im Unterschied zur Senatsmehrheit könnte nach Auffassung des Sondervotums jedoch der Bundestag von Verfassungs wegen auf der Grundlage der erforderlichen Abwägung am Inhalt des angegriffenen Beschlusses festhalten.

4. Die Richterin Lübbe-Wolff hat der Entscheidung ebenfalls eine abweichende Meinung beigefügt.

Die Abbildung der parlamentarischen Mehrheit ist danach ebenso wie die Erfolgswertgleichheit ein Element der Spiegelbildlichkeit. Im Fall eines Zielkonflikts zwischen Erfolgswertgleichheit und Mehrheitsabbildung besteht keine Verpflichtung, letztere zurückzusetzen. Das für den demokratischen Verantwortungszusammenhang wichtigste Element des abzubildenden Stärkeverhältnisses der Fraktionen sind die Mehrheitsverhältnisse. Der Bundestag darf deshalb für die Besetzung der Bundestagsbank im Vermittlungsausschuss ein Berechnungsverfahren wählen, das die Abbildung der parlamentarischen Mehrheit sicherstellt. Von den herkömmlichen, auf das Ziel der Erfolgswertgleichheit ausgerichteten Berechnungsverfahren darf daher zugunsten des Ziels der Mehrheitsabbildung abgewichen werden. Das beschlossene Berechnungsverfahren diskreditiert sich daher weder durch die Abweichung als solche noch dadurch, dass der eingebaute Korrekturfaktor auf ein bestimmtes Ergebnis, nämlich die Abbildung der regierungstragenden Mehrheit, gerichtet ist. Das Ziel der Erfolgswertgleichheit darf allerdings nicht weiter zurückgesetzt werden, als es das Ziel der Mehrheitsabbildung erfordert; in diesem Sinne muss die Zurücksetzung möglichst schonend erfolgen.

Dieses Gebot hat der Ag jedoch nicht in einer die ASt berührenden Weise missachtet. Ergibt die Anwendung herkömmlicher Zählverfahren ein Patt auf der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses, so lässt sich dieses Patt nicht schonender als dadurch im Sinne der Mehrheitsabbildung auflösen, dass ein Sitz von der Oppositions- auf die Mehrheitsseite verlagert wird. Genau dies bewirkt das beschlossene Berechnungsverfahren. Bleibt die Frage, welcher Fraktion innerhalb des Regierungslagers der zu verschiebende Sitz zufallen muss. Das Sondervotum prüft hier verschiedene Kriterien für die Bemessung der Nähe zur Erfolgswertgleichheit und gelangt zu dem Ergebnis, dass das beschlossene Berechnungsverfahren einen Fehler zulasten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufweist. Durch deren Benachteiligung sind jedoch Rechte der ASt unter keinem der in Betracht kommenden Gesichtspunkte berührt.

Karlsruhe, den 8. Dezember 2004