Bundesverfassungsgericht

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Regelung über die Nichtgewährung von Kindergeld in den Jahren 1994 und 1995 an Ausländer, die nur über eine Aufenthaltsbefugnis verfügten, war verfassungswidrig

Pressemitteilung Nr. 111/2004 vom 10. Dezember 2004

Beschluss vom 06. Juli 2004
1 BvL 4/97

§ 1 Abs. 3 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21. Dezember 1993 war mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens. Die Ausgangsverfahren vor dem Landessozialgericht bleiben ausgesetzt, bis der Gesetzgeber die verfassungswidrige Norm durch eine Neuregelung ersetzt hat. Ersetzt er die verfassungswidrige Regelung nicht bis zum 1. Januar 2006 durch eine Neuregelung, ist auf noch nicht abgeschlossene Verfahren das bis zum 31. Dezember 1993 geltende Recht anzuwenden.

Rechtlicher Hintergrund:

Bis zum Ende des Jahres 1989 wurde Kindergeld gleichermaßen an im Inland lebende deutsche und ausländische Familien gezahlt. Seit 1990 wurde der Kindergeldanspruch für Ausländer von einer einjährigen Wartefrist und einer günstigen Aufenthaltsprognose abhängig gemacht. Durch das 1. SKWPG wurde § 1 BKGG neu gefasst. Nach Absatz 3 dieser Regelung hatte ein Ausländer nur dann einen Anspruch auf Kindergeld, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis war. Diese Vorschrift galt vom 1. Januar 1994 bis zum 31. Dezember 1995 und ist Gegenstand des Vorlageverfahrens. Durch das Jahressteuergesetz 1996 wurde das Kindergeldrecht grundlegend erneuert. Zudem hat der Gesetzgeber für die Jahre 1983 bis 1995 rückwirkende Nachbesserungen an den Regelungen über die Gewährung von Kindergeld vorgenommen: Mit dem Gesetz zur Familienförderung vom 22. Dezember 1999 wurden Sonderregelungen zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums von Familien eingefügt.

Sachverhalt:

Die drei Kläger der Ausgangsverfahren waren im streitbefangenen Zeitraum (1994 und 1995) Ausländer. Sie hatten Aufenthaltsbefugnisse, aber keine Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis. In den Jahren 1994 bzw. 1995 bezogen sie zu ihrem Einkommen ergänzende Sozialhilfe und mussten keine Einkommensteuer zahlen. Auf Grund der Neuregelung von § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG durch das 1. SKWPG hoben die Kindergeldbehörden die zu Gunsten der Kläger ergangenen Kindergeldbewilligungen auf. Damit erhielten die Kläger ab Januar 1994 kein Kindergeld mehr. Ihre Klagen zum Sozialgericht blieben erfolglos. Das Landessozialgericht hat die Berufungsverfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob die der Versagung des Kindergeldes zu Grunde liegende Regelung mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

In den Gründen der Entscheidung heißt es:

1. Mit der Neuregelung des § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG durch das 1. SKWPG wurden Ausländer ohne Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsgenehmigung schlechter gestellt als Deutsche und Ausländer mit einer Aufenthaltserlaubnis oder -genehmigung. Zwar wurde die Ungleichbehandlung dadurch gemildert, dass durch das Gesetz zur Familienförderung von 1999 rückwirkend die Kinderfreibeträge erhöht wurden. Trotz dieser steuerrechtlichen Begünstigung blieben betroffene Eltern aber dann schlechter gestellt, wenn der Kindergeldbezug günstiger war als der Freibetrag, insbesondere wenn kein zu versteuerndes Einkommen vorhanden war. Soweit parallel zur steuerrechtlichen Regelung auch Regelungen über erhöhte Kindergeldnachzahlungen eingeführt wurden, erhielten ausländische Eltern ohne Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis hierdurch keinen Ausgleich für ihre Einbuße. Denn Nachzahlungen waren nur für die Fälle vorgesehen, in denen dem Grunde nach bereits ein Kindergeldanspruch bestand.

Bei ausschließlichem Sozialhilfebezug änderte sich durch die Neuregelung des § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG das Familieneinkommen im Ergebnis nicht, da das Kindergeld auch schon vor 1994 nicht an die Eltern, sondern an den Sozialhilfeträger ausgezahlt wurde. Die Ungleichbehandlung traf damit besonders ausländische Eltern ohne Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis, deren Einkommen einerseits so niedrig war, dass sie nicht von den Kinderfreibeträgen profitierten, andererseits aber doch so hoch, das sie nicht ausschließlich von Sozialhilfe leben mussten.

2. Die Ungleichbehandlung war sachlich nicht gerechtfertigt.

a) Zweck der Kindergeldzahlungen für die Gruppe der nicht steuerlich Begünstigen ist der Ausgleich der (im Vergleich zu Kinderlosen) verminderten finanziellen Leistungsfähigkeit der Familie. Diese besondere Belastung wurde bei Eltern oberhalb der Einkommensgruppe der hier Betroffenen durch Steuererleichterungen ausgeglichen. Bei Eltern unterhalb dieser Einkommensgruppe erfolgte der Ausgleich durch Sozialhilfe und zwar unabhängig vom Grad der Verfestigung des Aufenthaltsstatus. Dem gegenüber wurde bei Familien, die nicht von den steuerrechtlich vorgesehenen Kinderfreibeträgen profitierten, gleichzeitig aber auch nicht ausschließlich von Sozialhilfe leben mussten, die verminderte finanzielle Leistungsfähigkeit nicht berücksichtigt. Gewichtige Gründe hierfür sind nicht ersichtlich.

b) Soweit es Ziel der gesetzlichen Neufassung des § 1 Abs. 3 BKGG war, Kindergeld nur solchen Ausländern zu gewähren, von denen zu erwarten sei, dass sie auf Dauer in Deutschland bleiben, war die Regelung ungeeignet, das Ziel zu erreichen. Der Gesetzgeber eröffnet die Möglichkeit, die Aufenthaltsbefugnis zu einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder zu einer Aufenthaltsberechtigung werden zu lassen. Insofern stellt die Aufenthaltsbefugnis eine mögliche Vorstufe zum Daueraufenthalt dar. Die Aufenthaltsbefugnis allein eignet sich deshalb nicht als Grundlage einer Prognose über die Dauer des Aufenthalts und damit auch nicht als Abgrenzungskriterium bei der Gewährung von Kindergeld. Zudem wurden von der Regelung gerade solche Personen betroffen, die eher auf Dauer in Deutschland bleiben werden. Denn die Regelung benachteiligte im Wesentlichen Eltern, die in den deutschen Arbeitsmarkt integriert waren, da Eltern, die ausschließlich von Sozialhilfe lebten, nicht betroffen waren.

c) Ungeeignet war die Regelung auch zur Erreichung des Regelungszwecks, vermeintlich vorhandene Zuwanderungsanreize für Ausländer abzubauen. Dass die Frage des Kindergeldes für die hier betroffene Gruppe Einfluss auf das Zuwanderungsverhalten hatte, ist weder belegt noch nachvollziehbar.

Karlsruhe, den 10. Dezember 2004

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 111/2004 vom 10. Dezember 2004:

§ 1 BKGG hatte in der Zeit vom 1. Januar 1994 bis zum 31. Dezember 1995 folgenden Wortlaut:

Anspruchsberechtigte

(1) Nach den Vorschriften dieses Gesetzes hat Anspruch auf Kindergeld für seine Kinder und die ihnen durch § 2 Abs. 1 Gleichgestellten,

1. wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat,

2. ...

(2) ...

(3) Ein Ausländer hat einen Anspruch nach diesem Gesetz nur, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ist. Auch bei Besitz einer Aufenthaltserlaubnis hat ein Arbeitnehmer, der von seinem im Ausland ansässigen Arbeitgeber zur vorübergehenden Dienstleistung in den Geltungsbereich dieses Gesetzes entsandt ist, keinen Anspruch nach diesem Gesetz; sein Ehegatte hat einen Anspruch nach diesem Gesetz, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ist und eine der Beitragspflicht zur Bundesanstalt für Arbeit unterliegende oder nach § 169c Nr. 1 des Arbeitsförderungsgesetzes beitragsfreie Beschäftigung als Arbeitnehmer ausübt.