Bundesverfassungsgericht

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Nichtgewährung von Erziehungsgeld an Ausländer, die nur über eine Aufenthaltsbefugnis verfügten, war verfassungswidrig

Pressemitteilung Nr. 116/2004 vom 29. Dezember 2004

Beschluss vom 06. Juli 2004
1 BvR 2515/95

Die Verfassungsbeschwerde (Vb) einer in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürgerin, die sich im sozialgerichtlichen Verfahren gegen die Ablehnung der Gewährung von Erziehungsgeld gewandt hatte, war erfolgreich. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass § 1 Abs. 1 a Satz 1 Bundeserziehungsgeldgesetz in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms vom 23. Juni 1993 (BErzGG 1993) mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Es verstößt gegen den Gleichheitssatz, Ausländer mit Aufenthaltsbefugnis generell von der Gewährung von Erziehungsgeld auszuschließen. Im Rahmen einer Neuregelung kann der Gesetzgeber jedoch die Gewährung des Erziehungsgeldes an den Nachweis der Berechtigung zur Aufnahme oder Fortführung einer Erwerbstätigkeit knüpfen. Ersetzt der Gesetzgeber die verfassungswidrige Regelung nicht bis zum 1. Januar 2006, ist auf noch nicht abgeschlossene Verfahren das bis zum 26. Juni 1993 geltende Recht anzuwenden.

Im Hinblick auf die vorliegende Entscheidung hat der Gesetzgeber auch die Nachfolgeregelungen von § 1 Abs. 1 a BErzGG 1993 auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen.

Rechtlicher Hintergrund:

Das Erziehungsgeld wurde durch das Bundeserziehungsgeldgesetz vom 6. Dezember 1985 eingeführt. Durch die Gewährung von Erziehungsgeld soll Eltern die Möglichkeit gegeben werden, ganz oder teilweise auf eine Erwerbstätigkeit zu verzichten und sich der Erziehung ihrer Kinder in der ersten Lebensphase verstärkt zu widmen. In dem hier maßgeblichen Zeitraum (1993 bis 1995) betrug das Erziehungsgeld 600 DM pro Monat. Das Erziehungsgeld wurde unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Antragstellers gewährt. Voraussetzung war, dass der Anspruchsteller seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte. In den Jahren 1989 und 1990 wurde das BErzGG dahingehend geändert, dass ein Ausländer nur dann einen Anspruch auf Erziehungsgeld hat, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung, Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis ist.

Mit dem Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms vom 23. Juni 1993 wurde in § 1 BErzGG der Absatz 1 a eingefügt. Danach hatte ein Ausländer nur dann einen Anspruch auf Erziehungsgeld, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis war. Inhaber von Aufenthaltsbefugnissen schloss der Gesetzgeber vom Erziehungsgeldbezug aus. Mit dieser Regelung, die ab dem 27. Juni 1993 galt, sollte der Anspruch auf Ausländer begrenzt werden, von denen zu erwarten war, dass sie auf Dauer in Deutschland bleiben werden. § 1 Abs. 1 a BErzGG 1993 galt bis zum 31. Dezember 2000. Danach hat der Gesetzgeber den Kreis der Berechtigten wieder weiter gefasst.

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin (Bf) reiste als türkische Staatsbürgerin mit ihrem Ehemann nach Deutschland ein. Sie erhielt eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die nach einer Änderung des Ausländerrechts als Aufenthaltsbefugnis fort galt. Bei Ausländern mit einem solchen Aufenthaltstitel war von der Durchsetzung der Ausreisepflicht auf Dauer abzusehen. Am 5. Juli 1993 wurde der Sohn der Bf geboren. Der Antrag der Bf auf Gewährung von Erziehungsgeld wurde abgelehnt. Ihre Klage vor den Sozialgerichten blieb ohne Erfolg. Mit ihrer Vb rügt die Bf eine Verletzung des Lebensrechts ihres Kindes (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG).

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Nach § 1 Abs. 1 a BErzGG 1993 erhielten Ausländer mit Aufenthaltsbefugnis kein Erziehungsgeld, unabhängig davon, wie verfestigt ihr Aufenthalt in Deutschland im Einzelfall war. Damit wurden sie schlechter gestellt als Deutsche und Ausländer mit Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis. Diese Ungleichbehandlung war nicht gerechtfertigt.

1. Soweit es (legitimes) Ziel von § 1 Abs. 1 a BErzGG 1993 war, Erziehungsgeld nur solchen Ausländern zu gewähren, von denen erwartet werden konnte, dass sie auf Dauer in Deutschland bleiben, war die Regelung ungeeignet, das Ziel zu erreichen. Denn die Art des Aufenthaltstitels allein eignet sich nicht als Grundlage einer Prognose über die Dauer des Aufenthalts und damit auch nicht als Abgrenzungskriterium bei der Gewährung von Erziehungsgeld (siehe zur entsprechenden Regelung im Kindergeldrecht Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 2004 und Pressemitteilung Nr. 111/2004 vom 10. Dezember 2004).

2. Auch der Zweck des Erziehungsgeldes, die Wahlfreiheit zwischen Kindererziehung und Berufstätigkeit zu sichern, rechtfertigt nicht die Anknüpfung an den Aufenthaltstitel des Antragstellers. Zwar verstößt es nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz, wenn der Gesetzgeber Ausländer vom Kindergeldbezug ausschließt, die aus Rechtsgründen ohnehin einer Erwerbstätigkeit nicht nachgehen dürfen. Es bestand aber kein Zusammenhang zwischen der Art des Aufenthaltstitels und der Erlaubnis zu arbeiten. Denn nach dem Ausländergesetz konnte jede Form der Aufenthaltsgenehmigung mit einer Auflage versehen werden, nach der eine Erwerbstätigkeit in Deutschland untersagt war. Andererseits konnten nach dem im fraglichen Zeitraum geltenden Arbeitserlaubnisrecht auch die Inhaber von Aufenthaltsbefugnissen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit berechtigt sein.

3. Die weiteren mit der Gewährung von Erziehungsgeld verfolgten Zwecke (Entscheidung gegen eine Abtreibung, staatliche Anerkennung der Erziehungsleistung, Regeneration der Mutter) kommen bei Ausländern mit Aufenthaltsbefugnis nicht weniger zur Geltung als bei Deutschen und Ausländern mit Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis.

4. Die Benachteiligung war auch nicht als verfassungsrechtlich zulässige Typisierung gerechtfertigt. Bei der Ordnung von Massenerscheinungen darf der Gesetzgeber typisieren und generalisieren, wenn die damit verbundenen Härten nicht besonders schwer wiegen und nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären. Angesichts eines Betrages von bis zu 14.400 DM pro Kind war der mit der Versagung des Erziehungsgeldes verbundene Nachteil durchaus von Gewicht. Auf der anderen Seite entlastete die Regelung die Verwaltung nur in geringem Umfang. Bei einer Anknüpfung des Erziehungsgeldes an die Arbeitserlaubnis hätten die Behörden feststellen müssen, ob der Antragsteller über eine solche verfügt. Diese Prüfung wäre nicht aufwändiger gewesen als die Prüfung der Art des Aufenthaltstitels.

Karlsruhe, den 29. Dezember 2004