Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Beschränkung des Primärrechtsschutzes im Vergaberecht auf Auftragsvergaben oberhalb bestimmter Schwellenwerte verfassungsgemäß

Pressemitteilung Nr. 98/2006 vom 24. Oktober 2006

Beschluss vom 13. Juni 2006
1 BvR 1160/03

Das Vergaberecht (Gesamtheit der Normen über die Vergabe öffentlicher Aufträge durch einen Träger öffentlicher Verwaltung) teilt sich in zwei Bereiche, je nachdem, ob das Auftragsvolumen eine bestimmte Größenordnung erreicht oder nicht. Maßgeblich hierfür sind die in den EG-Vergaberichtlinien festgesetzten Schwellenwerte.

Für Aufträge, deren Betrag den jeweils maßgeblichen Schwellenwert erreicht oder übersteigt - bei Bauaufträgen handelt es sich um ein Auftragsvolumen von 5 Mio. Euro -, enthält der vierte Teil des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen Regelungen für das Vergabeverfahren (§§ 97 ff. GWB). Den am Vergabeverfahren beteiligten Unternehmen wird ein subjektives Recht auf Einhaltung der Bestimmungen über das Vergabeverfahren eingeräumt. Für die Durchsetzung ist ein besonderes Nachprüfungsverfahren vorgesehen. Zuständig hierfür sind die Vergabekammern des Bundes oder der Länder. Gegen deren Entscheidung ist die sofortige Beschwerde zulässig, über die ein Vergabesenat des Oberlandesgerichts entscheidet.

Für Auftragsvergaben unterhalb der Schwellenwerte gilt der vierte Teil des GWB nicht. Maßgebend für die Vergabe sind das Haushaltsrecht des Bundes und der Länder sowie Verwaltungsvorschriften. Ob und inwieweit den Interessenten ein Anspruch auf Primärrechtsschutz - also die gerichtliche Kontrolle des laufenden Vergabeverfahrens - zusteht, hängt mangels besonderer Regeln von den Vorgaben der allgemeinen Rechtsordnung ab. Soweit sich danach überhaupt Unterlassungsansprüche ergeben können, sind diese faktisch in aller Regel nicht durchsetzbar, da sie jedenfalls mit Erteilung des Zuschlags untergehen. Die erfolglosen Bewerber erfahren von ihrer Nichtberücksichtigung zumeist erst mit oder nach dem Zuschlag. Faktisch sind die erfolglosen Bewerber um eine Auftragsvergabe unterhalb des Schwellenwertes daher - vorbehaltlich der Möglichkeit einer Feststellungsklage - in aller Regel vom Primärrechtsschutz ausgeschlossen. Ansonsten besteht nur die Möglichkeit von Sekundärrechtsschutz durch Geltendmachung etwaiger Schadensersatzansprüche.

Die Beschwerdeführerin beteiligte sich an einer Ausschreibung des Landesamtes für Straßenwesen des Saarlandes für Verkehrssicherungsmaßnahmen auf einer Autobahn. Die Auftragssumme lag unter 5 Mio. Euro und damit unterhalb des maßgeblichen Schwellenwertes. Da ein anderer Bieter den Zuschlag erhielt, beantragte die Beschwerdeführerin bei der Vergabekammer die Nachprüfung der Vergabe. Die Kammer wies den Antrag als unzulässig zurück. Das Oberlandesgericht bestätigte die Entscheidung. Der Nachprüfungsantrag sei unzulässig, weil der ausgeschriebene Auftrag den für die Anwendbarkeit der §§ 97 ff. GWB erforderlichen Schwellenwert nicht erreiche.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde richtet sich die Beschwerdeführerin gegen die Beschränkung des Primärrechtsschutzes auf Entscheidungen über die Vergabe von Aufträgen, deren Volumen oberhalb des Schwellenwertes liegen. Die Verfassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts stellte fest, es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber den Rechtsschutz gegen Vergabeentscheidungen unterhalb der Schwellenwerte anders gestaltet hat als den gegen Vergabeentscheidungen, die die Schwellenwerte übersteigen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde: 1. Die Beschwerdeführerin ist nicht in ihrem allgemeinen Justizgewährungsanspruch (Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt.

Das Grundgesetz garantiert mit dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch Rechtsschutz nur zum Schutz subjektiver Rechte. Die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG, die auch die Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner Funktionsbedingungen sichert, scheidet als Grundlage eines subjektiven Rechts der Beschwerdeführerin aus. Das Haushaltsrecht dient nicht der Sicherung des Wettbewerbs oder der Einrichtung einer besonderen Wettbewerbsordnung für das Nachfrageverhalten des Staates, sondern der wirtschaftlichen Verwendung öffentlicher Mittel. Ein subjektives Recht der Beschwerdeführerin ergibt sich jedoch aus Art. 3 Abs. 1 GG. Der Gleichheitssatz bindet staatliche Stellen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Jeder Mitbewerber muss eine faire Chance erhalten, nach Maßgabe der für den spezifischen Auftrag wesentlichen Kriterien und des vorgesehenen Verfahrens berücksichtigt zu werden.

Die in der Rechtsordnung dem übergangenen Konkurrenten eingeräumten Möglichkeiten des Rechtsschutzes gegen Entscheidungen über die Vergabe öffentlicher Aufträge mit Auftragssummen unterhalb der Schwellenwerte genügen den Anforderungen des Justizgewährungsanspruchs. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber das Interesse an einer raschen Vergabeentscheidung und damit an der Möglichkeit einer sofortigen Ausführung der Maßnahme für gewichtiger als das des erfolglosen Bieters gehalten hat. Vergaben unterhalb der Schwellenwerte sind ein Massenphänomen. Müssten für solche Vergaben stets bestimmte Verfahrensvorkehrungen getroffen werden um effektiven Primärrechtsschutz zu ermöglichen, könnte das die Verwaltungsarbeit erheblich beeinträchtigen und dadurch die Wirtschaftlichkeit der Vergabe leiden. Demgegenüber ist der erfolglose Bieter durch die Auftragsvergabe in einer bloßen Umsatzchance, nicht in seiner persönlichen Rechtsstellung betroffen. Wird er auf einen Schadensersatzanspruch verwiesen, kann sein auf den Erhalt einer Umsatzchance gerichtetes Interesse durch einen solchen Anspruch grundsätzlich ausgeglichen werden. Daher ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber den in der allgemeinen Rechtsordnung verfügbaren Sekundärrechtsschutz als ausreichend angesehen und keine besonderen Vorkehrungen zur Realisierung von Primärrechtsschutz, etwa durch eine Pflicht zur Information des erfolglosen Bieters vor der Zuschlagserteilung, getroffen hat.

2. Es verletzt auch nicht den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), dass der Gesetzgeber den Rechtsschutz gegen Vergabeentscheidungen unterhalb der Schwellenwerte anders gestaltet hat als den gegen Vergabeentscheidungen, die die Schwellenwerte übersteigen. Die Ungleichbehandlung ist durch hinreichend gewichtige Gründe gerechtfertigt.

Das öffentliche Beschaffungswesen dient der wirtschaftlichen Verwendung öffentlicher Mittel. Führen bestimmte rechtliche Maßgaben für das Vergabeverfahren zu einer Verteuerung der Auftragsvergabe, ist es sachgerecht, über ihre Einführung mit Blick auf wirtschaftliche Gesichtspunkte zu entscheiden. Werden rechtmäßige Vergabeverfahren auf Initiative des Einzelnen überprüft, entstehen Verfahrenskosten, ohne dass diesen Kosten ein Gewinn an Wirtschaftlichkeit gegenüberstünde. Zudem besteht stets die Gefahr, dass die den Konkurrenten eingeräumten Rechtsschutzmöglichkeiten sachwidrig genutzt oder sogar missbraucht werden. Auch darunter kann die Wirtschaftlichkeit des Beschaffungswesens leiden. Weiter kann unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Vergabe die Verzögerung, die ein Kontrollverfahren regelmäßig mit sich bringt, ihrerseits Kosten verursachen. Schließlich kann wegen dieser Verzögerung die Erfüllung der öffentlichen Aufgabe, um deretwillen Mittel beschafft werden sollen, beeinträchtigt oder sogar verfehlt werden.

Der Gesetzgeber hat sich bei der Entscheidung über die Zweiteilung des Vergaberechts nach Maßgabe der Schwellenwerte innerhalb seines Gestaltungsspielraums gehalten. Nach der gesetzgeberischen Lösung hängt von der Größenordnung der Auftragsvergabe ab, ob ein einfachrechtliches subjektives Recht besteht und das besondere Kontrollverfahren der §§ 102 ff. GWB eröffnet wird. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Gesetz davon ausgeht, dass der mögliche Ertrag an Wirtschaftlichkeit, den ein solches Verfahren mit sich bringen kann, mit dem Betrag der Beschaffung steigt, und dass der Vorteil bei Vergabeentscheidungen oberhalb der Schwellenwerte typischerweise nicht wegen der Kosten entfällt, die mit der Kontrolle nach §§ 102 ff. GWB verbunden sind. Angesichts dieser Sachlage durfte der Gesetzgeber den Zugang zu dem Kontrollverfahren in einer typisierenden Regelung davon abhängig machen, dass ein bestimmtes Auftragsvolumen erreicht wird. Dabei begegnet die Anknüpfung an die europarechtlich vorgegebene Typisierung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.