Bundesverfassungsgericht

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Verfassungsbeschwerde gegen Unterbringungsbefehl im Zusammenhang mit der Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung erfolgreich

Pressemitteilung Nr. 90/2008 vom 29. Oktober 2008

Beschluss vom 22. Oktober 2008
2 BvR 749/08

Der Beschwerdeführer wurde wegen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch eines Kindes vom Landgericht zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Gleichzeitig wurde die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Nach Vollzug der Unterbringung und der Freiheitsstrafe ordnete das Landgericht nach § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB in Verbindung mit § 66 Abs. 1 Nr. 1-2, Abs. 4 StGB nachträglich die Sicherungsverwahrung an, weil während der Unterbringung Umstände erkennbar geworden seien, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hindeuteten. Der Beschwerdeführer legte gegen dieses Urteil Revision ein. Im März 2008 erließ das Landgericht einen Unterbringungsbefehl, gegen den der Verurteilte Beschwerde einlegte, die durch das Oberlandesgericht verworfen wurde. Zwischenzeitlich hob der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 3. September 2008 - 5 StR 281/08 - Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs Nr. 167/2008) auf die Revision des Beschwerdeführers das Urteil des Landgerichts auf und verwies die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an ein anderes Landgericht.

Die Verfassungsbeschwerde gegen den Unterbringungsbefehl und die diesen bestätigende Entscheidung des Oberlandesgerichts hatte Erfolg. Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob diese Entscheidungen auf, da sie den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes verletzen. Zwar ist § 275a Abs. 5 StPO als gesetzliche Grundlage des angegriffenen Unterbringungsbefehls verfassungsrechtlich auch insofern nicht zu beanstanden, als die Vorschrift Fälle erfasst, in denen die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage des § 66b Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB zu erwarten ist. Die Anwendung der Vorschrift im vorliegenden Einzelfall durch das Landgericht und das Oberlandesgericht ist aber mit dem Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht zu vereinbaren.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

I. Die mit § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB einhergehende Erweiterung der Möglichkeiten zur nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verstößt nicht gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG oder das Doppelbestrafungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG sowie gegen das rechtsstaatliche und grundrechtliche Gebot des Vertrauensschutzes (Art. 2 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3 GG). Die Neuregelung greift zwar in das Freiheitsgrundrecht ein, genügt aber insbesondere den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und verletzt daher auch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht.

II. Die Auslegung und Anwendung des § 275a Absatz 5 StPO in Verbindung mit § 66 Absatz 1 StGB in den angegriffenen Entscheidungen genügen allerdings den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Die Auffassung des Landgerichts, es bestünden dringende Gründe für die Annahme, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers angeordnet werde, verkennt die hier zu beachtenden Anforderungen des Freiheitsgrundrechts in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

1. Auf der Grundlage der Feststellungen des Landgerichts im Unterbringungsbefehl und im - ergänzend heranzuziehenden - Urteil lässt sich zunächst die Gegenwärtigkeit der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefahr, wie sie von Verfassungs wegen zu fordern ist, nicht bejahen. Ein nur "mittel- oder langfristig" bestehendes Risiko, wie vom Landgericht festgestellt, genügt für den erheblichen Eingriff in das Freiheitsrecht des Beschwerdeführers nicht.

2. Ferner fehlt es an einer tragfähigen Grundlage für den vom Landgericht gezogenen Schluss, dass der Beschwerdeführer mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Der Prognose der Sachverständigen, nach denen der Beschwerdeführer "sexuelle Übergriffe" begehen werde, hat sich das Landgericht zwar nachvollziehbar angeschlossen. "Sexuelle Übergriffe" sind aber nicht notwendig erhebliche Straftaten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Vielmehr versteht darunter auch das Landgericht eine große Bandbreite von Handlungen. Es liegt auf der Hand, dass es in einer solchen Konstellation erforderlich ist, spezifisch zur Wahrscheinlichkeit gerade der gesetzlich einzig bedeutsamen schweren Delikte Stellung zu nehmen. Insofern lässt sich dem Urteil und dem Unterbringungsbefehl jedoch nur entnehmen, dass diese "nicht auszuschließen" seien. Dass ein solcher geringer Wahrscheinlichkeitsgrad nicht genügt, hat das Bundesverfassungsgericht bereits ausdrücklich ausgesprochen und unterliegt angesichts des verfassungsrechtlich notwendigen Ausnahmecharakters der nachträglichen Sicherungsverwahrung auch keinen Zweifeln.