Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Bundesverfassungsgericht behält sich auch nach Ende einer Wahlperiode die Prüfung von Wahlrechtsnormen oder wichtigen wahlrechtlichen Zweifelsfragen vor

Pressemitteilung Nr. 4/2009 vom 23. Januar 2009

Beschluss vom 15. Januar 2009
2 BvC 4/04

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass das Gericht sich vorbehält, grundsätzlich auch nach der Auflösung eines Bundestages oder dem regulären Ablauf einer Wahlperiode im Rahmen einer zulässigen Wahlprüfungsbeschwerde die Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsnormen zu prüfen. Das hierfür erforderliche öffentliche Interesse an einer Sachentscheidung ist jedoch für Wahlprüfungsbeschwerden gegen die ordnungsgemäße Zusammensetzung des 15. Deutschen Bundestages insbesondere insoweit entfallen, als die Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate und die Berücksichtigung von bestimmten Zweitstimmen in zwei Berliner Wahlkreisen gerügt wird.

Der Beschwerdeführer legte im November 2002 Einspruch beim Deutschen Bundestag gegen die Wahl zum 15. Deutschen Bundestag ein. Der Deutsche Bundestag wies diesen Wahleinspruch als offensichtlich unbegründet zurück. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Am 21. Juli 2005 löste der Bundespräsident den 15. Deutschen Bundestag auf Vorschlag des Bundeskanzlers auf. Augrund der Wahl vom 18. September 2005 konstituierte sich inzwischen der 16. Deutsche Bundestag. Der Beschwerdeführer verfolgt seine Beschwerde weiter.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Das Bundesverfassungsgericht bleibt grundsätzlich auch nach der Auflösung eines Bundestages oder dem regulären Ablauf einer Wahlperiode befugt, die im Rahmen einer zulässigen Wahlprüfungsbeschwerde erhobenen Rügen der Verfassungswidrigkeit von Wahlrechtsnormen und wichtige wahlrechtliche Zweifelsfragen zu prüfen. Nach Ablauf einer Wahlperiode kann ein öffentliches Interesse an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsgemäßheit von Wahlrechtsnormen und die Anwendung des geltenden Wahlrechts bestehen, soweit ein möglicher Wahlfehler über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung hat.

Ein öffentliches Interesse an einer Sachentscheidung nach Ablauf der Wahlperiode besteht nicht, soweit eine Wahlprüfungsbeschwerde von Anfang an unzulässig ist oder wenn das Bundesverfassungsgericht bereits in anderem Zusammenhang die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Vorschrift oder vom Beschwerdeführer aufgeworfene wahlrechtliche Zweifelsfragen geklärt und der Beschwerdeführer keine Gesichtspunkte vorgetragen hat, die Anlass zu einer abweichenden Beurteilung geben könnten. Gleiches gilt, wenn der gerügte Mangel durch Änderung der Vorschrift zwischenzeitlich behoben wurde oder die Vorschrift in einem engen sachlichen Zusammenhang mit Normen steht, deren Verfassungswidrigkeit das Bundesverfassungsgericht bereits festgestellt hat. Ein öffentliches Sachentscheidungsinteresse kann auch entfallen, wenn der Deutsche Bundestag einen vom Beschwerdeführer gerügten Verstoß gegen eine Wahlrechtsnorm bereits im Einspruchsverfahren festgestellt hat.

Das öffentliche Interesse steht einer Beendigung des Verfahrens ohne Entscheidung zur Sache nicht entgegen, weil die vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen zum Teil schon deshalb unzulässig sind, weil sie den Begründungsanforderungen nicht genügen. Soweit der Beschwerdeführer die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht als verfassungswidrig rügt, die Möglichkeit eines Wahlfehlers aufgrund von Zeitungs- und Magazinbeilagen geltend macht und Meinungsumfragen vor der Wahl als verfassungswidrig beanstandet, genügt sein pauschales Vorbringen nicht den Begründungsanforderungen. Auch hat der Beschwerdeführer einen Wahlfehler aufgrund einer wegen Verstoßes gegen die Rechenschaftspflicht unzulässig finanzierten Wahlwerbung durch die FDP nicht hinreichend substantiiert dargelegt.

An der Rüge des Beschwerdeführers, dass die Entstehung von Überhangmandaten und die Berücksichtigung der Zweitstimmen von Wählern, die in zwei Berliner Wahlkreisen mit ihrer Erststimme der jeweiligen Wahlkreiskandidatin der PDS zu einem Mandat verholfen haben, mit ihrer Zweitstimme jedoch für eine andere Landesliste gestimmt haben (so genannte Berliner Zweitstimmen), die Gleichheit der Wahl verletzen, besteht aufgrund der Entscheidung des Senats zum so genannten negativen Stimmgewicht kein öffentliches Interesse mehr an der Weiterführung des Wahlprüfungsverfahrens. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber aufgegeben, den Regelungskomplex, der zum Auftreten des so genannten negativen Stimmgewichts führen kann, bis spätestens zum 30. Juni 2011 zu ändern, damit der Deutsche Bundestag in Zukunft aufgrund eines in Einklang mit der Verfassung stehenden Gesetzes gewählt werden kann. Im Hinblick darauf, dass der genannte Effekt untrennbar mit den Überhangmandaten und der Möglichkeit von Listenverbindungen zusammenhängt, kann eine Neuregelung beim Entstehen der Überhangmandate oder bei der Verrechnung von Direktmandaten mit den Zweitstimmenmandaten oder auch bei der Möglichkeit von Listenverbindungen ansetzen. Die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage der Verfassungswidrigkeit von Überhangmandaten wird sich nach einer Neuregelung nicht mehr in der gleichen Weise stellen. Ob und inwieweit die Mandatsverteilung im Deutschen Bundestag mit der Verfassung vereinbar ist, lässt sich nur unter Würdigung des Zusammenspiels der verschiedenen Wahlrechtsnormen und mit Blick auf das vom Gesetzgeber gewählte Wahlsystem beurteilen. Gleiches gilt für die Frage, ob durch das "Splitten" von Erst- und Zweitstimme ein doppelter Stimmerfolg erzielt werden kann, wenn die für politische Parteien abgegebenen Zweitstimmen diesen zu Listenplätzen verhelfen, obwohl die Erststimmen der Wähler schon zur Zuteilung eines Bundestagssitzes geführt haben, der nicht im Wege des Verhältnisausgleichs verrechnet werden kann.

Soweit der Beschwerdeführer eine rechtswidrige Datennutzung seitens der CDU für Wahlkampfzwecke rügt, besteht kein öffentliches Sachentscheidungsinteresse, weil der Deutsche Bundestag bereits im Einspruchsverfahren festgestellt hat, dass die Übermittlung der Daten aller Wahlberechtigten der betreffenden Wahlkreise seitens der Stadt Köln an die CDU rechtswidrig war. Der nordrhein-westfälische Landesgesetzgeber hat dies inzwischen auch durch eine Gesetzesänderung klargestellt. Ob und inwieweit die Übermittlung der Daten aller Wahlberechtigten in der Vergangenheit einen erheblichen Wahlfehler begründen konnte, bedarf daher keiner Entscheidung mehr.

Die verbleibenden Rügen des Beschwerdeführers betreffen Wahlrechtsnormen, deren Verfassungsmäßigkeit das Bundesverfassungsgericht bereits festgestellt, und wahlrechtliche Zweifelsfragen, die das Bundesverfassungsgericht schon entschieden hat. Der Beschwerdeführer hat diesbezüglich keine Gesichtspunkte vorgetragen, die Anlass zu einer anderweitigen Beurteilung geben könnten.