Bundesverfassungsgericht

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Zur Haftungsprivilegierung des nicht mit dem Kind in einem Haushalt lebenden Elternteils nach § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X

Pressemitteilung Nr. 101/2010 vom 10. November 2010

Beschluss vom 12. Oktober 2010
1 BvL 14/09

Die Vorschrift des § 116 SGB X bestimmt, dass ein Anspruch des Geschädigten auf Ersatz eines Schadens von ihm auf den Sozialleistungsträger übergeht, soweit dieser aufgrund des Schadensereignisses Sozialleistungen an den Geschädigten zur Schadensbehebung zu erbringen hat. Von diesem Anspruchsübergang sind gemäß dem vorliegend maßgeblichen Satz 1 des Absatzes 6 der Norm Ansprüche wegen nicht vorsätzlicher Schädigung gegen Familienangehörige ausgenommen, die mit dem Geschädigten in einer häuslichen Gemeinschaft leben.

Der Beklagte des Ausgangsverfahrens ist Vater eines im Jahr 2000 nichtehelich geborenen Sohnes, für den beide Elternteile die Personensorge gemeinsam ausübten. Der Junge lebte bei der Kindesmutter. Der Beklagte kam seiner Unterhaltspflicht für das Kind uneingeschränkt nach. Zwischen ihm und dem Jungen fand regelmäßig jedes zweite Wochenende Umgang im Hausanwesen der Großeltern des Kindes statt, in dem auch der Beklagte lebte. Während eines solchen Besuchswochenendes Anfang August 2001 fiel das einige Minuten unbeaufsichtigte Kind in eine auf dem Grundstück stehende, ungesicherte Regentonne und befand sich etwa zehn Minuten unter Wasser. Hierdurch erlitt der Junge schwerste Schäden, die voraussichtlich auf Lebensdauer zu einem Betreuungs- und Beaufsichtigungsbedarf führen werden. Der zuständige Sozialhilfeträger erbringt seit August 2002 für das Kind Leistungen der Sozialhilfe in Form der Eingliederungshilfe. Er ist Kläger des Ausgangsverfahrens und nimmt den Beklagten aus gemäß § 116 Abs. 1 SGB X übergegangenem Recht wegen Verletzung der Aufsichtspflicht auf Schadensersatz in Anspruch.

Das Landgericht geht davon aus, dass der Beklagte seine Aufsichtspflicht grob fahrlässig verletzt hat und deshalb der familienrechtliche Haftungsausschluss nach § 1664 Abs. 1 BGB für ihn nicht greift. Es hält jedoch § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz und den verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der Familie für verfassungswidrig und hat dem Bundesverfassungsgericht im konkreten Normenkontrollverfahren die Frage vorgelegt, ob § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als er eine Haftungsprivilegierung des nicht in häuslicher Gemeinschaft lebenden, unterhaltspflichtigen Kindesvaters im Gegensatz zu in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen nicht vorsieht.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die durch den Ausschluss des Anspruchsübergangs erfolgende Privilegierung von Familienangehörigen, die in häuslicher Gemeinschaft leben, gegenüber getrennt lebenden Familienangehörigen ist auch im Hinblick auf Eltern und ihre Kinder sachlich gerechtfertigt. Allerdings ist § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X unter Berücksichtigung des grundrechtlichen Schutzes der Familie und des Elternrechts dahingehend auszulegen, dass eine haftungsprivilegierende häusliche Gemeinschaft auch zwischen dem Kind und demjenigen Elternteil entsteht, der zwar von ihm getrennt lebt, jedoch seiner Verantwortung für das Kind in dem ihm rechtlich möglichen Maße nachkommt und regelmäßigen sowie längeren Umgang mit dem Kind pflegt, so dass dieses zeitweise auch in seinen Haushalt integriert ist.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

§ 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X verstößt nicht gegen den nach Art. 6 Abs. 1 GG zu gewährleistenden Schutz der Familie. Denn bei der Inanspruchnahme eines gegenüber einem Familienangehörigen schadensersatzpflichtigen anderen Familienangehörigen infolge eines Anspruchsübergangs handelt es sich schon nicht um eine familienbedingte finanzielle Belastung, sondern um eine, die die Familie zwar trifft, aber aus einer Schadensersatz begründenden Handlung eines Familienmitglieds herrührt. Zur Kompensation einer solchen, dem einzelnen Familienangehörigen aus einer von ihm zu verantwortenden Verletzungshandlung, wie zum Beispiel der Verletzung seiner elterlichen Pflichten, entstehenden finanziellen Belastung ist der Staat durch Art. 6 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht verpflichtet.

Auch Art. 6 Abs. 5 GG, der die Schlechterstellung nichtehelicher Kinder gegenüber ehelichen Kindern verbietet, wird durch § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X nicht verletzt. Die Norm differenziert nicht danach, ob es sich bei dem schädigenden oder geschädigten Familienangehörigen um ein eheliches oder nichteheliches Kind handelt, vielmehr danach, ob der schädigende mit dem geschädigten Familienangehörigen in häuslicher Gemeinschaft lebt. Diese Unterscheidung führt auch nicht zu einer mittelbaren Ungleichbehandlung nichtehelicher Kinder gegenüber ehelichen Kindern. Denn heutzutage kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass in aller Regel nichteheliche Kinder nur mit einem Elternteil leben und eheliche Kinder in häuslicher Gemeinschaft mit beiden Elternteilen aufwachsen. Vielmehr können eheliche Kinder, deren Eltern sich getrennt haben, von dem Haftungsprivileg ebenso ausgenommen sein.

Es verletzt ferner nicht den allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG, dass § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X den Übergang eines Schadensersatzanspruchs auf den Sozialleistungsträger dann ausschließt, wenn ein Schadensverursacher mit seinem Familienangehörigen, dem er Schaden zugefügt hat, in häuslicher Gemeinschaft lebt, nicht dagegen, wenn die beiden getrennt leben. Diese Ungleichbehandlung ist durch hinreichende Gründe gerechtfertigt.

Nach der gesetzgeberischen Zwecksetzung sollte durch das Haftungsprivileg zum einen eine mittelbare wirtschaftliche Benachteiligung des Geschädigten vermieden werden. Die Gefahr einer solchen Beeinträchtigung des geschädigten Familienangehörigen durch einen Rückgriff des Sozialleistungsträgers auf den Schädiger ist größer, wenn dieser mit dem Geschädigten in häuslicher Gemeinschaft lebt. Dies gilt auch, wenn der Geschädigte ein Kind und der Schädiger dessen unterhaltspflichtiger Elternteil ist. Durch den Regress bei dem getrennt lebenden, zu Barunterhalt verpflichteten Elternteil verringern sich lediglich seine finanziellen Mittel zur Bestreitung seines eigenen Lebensunterhalts. Der Rückgriff hat jedoch in der Regel keine Auswirkungen auf die Höhe des dem Kind geschuldeten Unterhalts, da die Rückgriffsforderung des Sozialleistungsträgers unterhaltsrechtlich nicht berücksichtigungsfähig ist und im Falle einer Verbraucherinsolvenz des unterhaltspflichtigen Elternteils der Unterhaltsanspruch des geschädigten Kindes, der vorrangig vor der Regressforderung des Sozialleistungsträgers zu bedienen ist, ungeschmälert erhalten bliebe. Würde hingegen der Elternteil, bei dem das geschädigte Kind lebt, als Schädiger in Regress genommen, minderte sich das Einkommen, das dem gemeinsamen Eltern-Kind-Haushalt zur Verfügung steht, wodurch auch dem geschädigten Kind die Mittel für seinen Unterhalt entzogen und damit seine Lebensqualität beeinträchtigt würde. Denn die Höhe der Ausgaben für Kinder hängt wesentlich von der Höhe des Haushaltseinkommens der sie betreuenden Elternteile ab.

Des Weiteren ist auch die mit dem Rückgriff des Sozialleistungsträgers verbundene Gefahr einer Störung des häuslichen Friedens zwischen dem schädigenden und geschädigten Familienangehörigen deutlich größer, wenn beide in häuslicher Gemeinschaft leben. Das Schadensereignis lässt ein Konfliktpotential zwischen Schädiger und Geschädigtem entstehen, das ihr Verhältnis zueinander schwer belasten kann. Würde die finanzielle Belastung durch einen Regress des Sozialleistungsträgers noch hinzukommen, könnte dies die häuslichen Spannungen erheblich steigern, denen beide, anders als bei einem Getrenntleben von Schädiger und Geschädigtem, permanent und zwangsläufig ausgesetzt wären. Dies träfe ein von einem Elternteil geschädigtes Kind in besonderer Weise und würde sich negativ auf seine Entwicklung auswirken. Bei einem Getrenntleben des Kindes von dem Elternteil ist es diesen Spannungen nicht unmittelbar und dauernd ausgesetzt, sondern wird damit gar nicht oder nur während zeitlich begrenzter Zusammentreffen mit dem Elternteil konfrontiert.

Die für den Ausschluss des Anspruchsübergangs nach § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X maßgebliche Tatbestandsvoraussetzung, dass der schädigende mit dem geschädigten Familienangehörigen in häuslicher Gemeinschaft lebt, ist allerdings bei Kindern und ihren von ihnen getrennt lebenden Elternteilen im Lichte des Schutzes der auch zwischen ihnen bestehenden Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG sowie des Elternrechts des getrennt lebenden Elternteils aus Art. 6 Abs. 2 GG auszulegen. Trägt ein Elternteil mit dem anderen Elternteil, bei dem sich sein Kind vorrangig aufhält, gemeinsam die Sorge für das Kind oder ist allein aus Kindeswohlgründen nicht ihm, sondern dem anderen Elternteil die Alleinsorge eingeräumt, zahlt er regelmäßig den vereinbarten oder gerichtlich festgesetzten Kindesunterhalt und praktiziert den verabredeten oder ihm eingeräumten regelmäßigen Umgang mit dem Kind, der auch ein Verweilen und Übernachten des Kindes in seinem Haushalt mit umfasst, kommt dieser Elternteil in vollem, ihm rechtlich möglichen Umfang seiner elterlichen Verantwortung seinem Kind gegenüber nach. Ein solches Leben in häuslicher Gemeinschaft unter dem Vorzeichen getrennt lebender Eltern ist im Hinblick auf den mit § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X verfolgten Schutzzweck mit einer häuslichen Gemeinschaft gleichzusetzen, in der ein Elternteil mit seinem Kind tagtäglich zusammenlebt. Denn diese Art des Zusammenlebens ist nicht minder vor Beeinträchtigungen infolge des Anspruchsübergangs auf den Sozialleistungsträger zu bewahren. In einem solchen Eltern-Kind-Verhältnis wird regelmäßig auch der barunterhaltspflichtige Elternteil aus seiner Haushaltskasse Leistungen für das Kind erbringen, die über seine Verpflichtung zur Unterhaltszahlung hinausgehen, ihm aber nicht mehr wie bisher möglich wären, wenn der Sozialleistungsträger wegen eines übergegangenen Schadensersatzanspruchs des Kindes auf ihn Rückgriff nehmen würde. Die Vermeidung von Spannungen und Streitigkeiten aufgrund einer Geltendmachung übergeleiteter Schadensersatzansprüche ist bei einer häuslichen Gemeinschaft mit teilweisem Zusammenleben von Kind und Elternteil ebenso vonnöten wie bei einer häuslichen Gemeinschaft, in der Elternteil und Kind stetig zusammenleben.

Wenn die vorgenannten Voraussetzungen bei dem Beklagten des Ausgangsverfahrens und seinem Kind vorgelegen haben, was das Landgericht zu prüfen hat, könnte er gemäß § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X trotz eines nicht ständigen Aufenthalts des Kindes bei ihm nicht in Regress genommen werden.