Bundesverfassungsgericht

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Keine Strafbarkeitslücke durch Verweisung auf eine noch nicht anwendbare europäische Verordnung

Pressemitteilung Nr. 42/2018 vom 29. Mai 2018

Beschluss vom 03. Mai 2018
2 BvR 463/17

Es besteht keine Straflosigkeit für vor dem 3. Juli 2016 begangene und noch nicht rechtskräftig abgeurteilte Straftaten nach dem Wertpapierhandelsgesetz (WpHG). Die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Auslegung des § 38 Abs. 3 Nr. 1 WpHG, nach der es am 2. Juli 2016 nicht zu einer „Ahndungslücke“ für Straftaten nach dem Wertpapierhandelsgesetz gekommen sei, verstößt nicht gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG. Dies stellte die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss fest und nahm eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an.

Sachverhalt:

Der Geschäftsführer der Beschwerdeführerin wurde durch das Landgericht Hamburg wegen Insiderhandels auf Grundlage des Gesetzes über den Wertpapierhandel in der bis zum 1. Juli 2016 gültigen Fassung verwarnt. Gegen die Beschwerdeführerin wurde der Verfall von Wertersatz in Höhe von 390.000 Euro angeordnet. Die Beschwerdeführerin legte gegen das Urteil Revision ein. Die Revision begründete die Beschwerdeführerin unter anderem mit einer zeitlich nach dem Urteil des Landgerichts erfolgten Änderung des Wertpapierhandelsgesetzes. Durch das Erste Finanzmarktnovellierungsgesetz vom 30. Juni 2016 sei die vorherige Vorschrift über das Verbot des Insiderhandels durch § 38 Abs. 3 Nr. 1 WpHG ersetzt worden. Danach werde bestraft, wer gegen die Marktmissbrauchsverordnung (MAR) verstoße, indem er entgegen deren Art. 14 ein Insidergeschäft tätige. Diese Regelung sei am 2. Juli 2016 in Kraft getreten. Art. 14 MAR, auf den in dieser Vorschrift Bezug genommen werde, sei zwar bereits im Juni 2014 in Kraft getreten, aber erst ab dem 3. Juli 2016 anwendbar gewesen.

§ 38 Abs. 3 Nr. 1 WpHG verweise somit für den 2. Juli 2016 auf eine Verordnung, die insoweit noch keine Geltung habe. Diese Leerverweisung habe die Straflosigkeit zur Folge, da gegen eine noch nicht anwendbare Verordnung nicht verstoßen werden könne und gemäß § 2 Abs. 3 StGB im Fall einer Gesetzesänderung stets das mildeste Gesetz anzuwenden sei. Diese zeitlich nach der Entscheidung des Landgerichts eingetretene Straflosigkeit habe der Bundesgerichtshof auch dann zu berücksichtigen, wenn es sich um einen bloßen gesetzgeberischen Irrtum handele. Das aus dem Insiderhandel Erlangte könne dann ebenfalls nicht mehr abgeschöpft werden.

Der Bundesgerichtshof verwarf mit Beschluss vom 10. Januar 2017 die Revision als unbegründet, da es sich bei § 38 Abs. 3 Nr. 1 WpHG um eine verfassungsrechtlich unbedenkliche statische Verweisung auf die Marktmissbrauchsverordnung handle. Durch die Bezugnahme sei Art. 14 MAR ab dem 2. Juli 2016 für (mit)anwendbar erklärt worden, da der nationale Gesetzgeber stets eine lückenlose Ahndung des Insiderhandels habe erreichen wollen.

Die Beschwerdeführerin macht mit ihrer Verfassungsbeschwerde eine Verletzung des Analogieverbots aus Art. 103 Abs. 2 GG und, aufgrund der Anordnung des Verfalls, eine Verletzung ihres Eigentumsrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG geltend.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die Auslegung des § 38 Abs. 3 Nr. 1 WpHG in der ab dem 2. Juli 2016 geltenden Fassung durch den Bundesgerichtshof verstößt nicht gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG.

Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden darf, wenn ihre Strafbarkeit vor der Begehung der Tat gesetzlich bestimmt war. Über die Strafbarkeit eines Handelns entscheidet allein der Gesetzgeber. Den Richtern verbleibt die Anwendung und Interpretation der Vorschriften innerhalb der Grenze des Wortlauts.

Der Bundesgerichtshof wird in dem angegriffenen Beschluss diesen Anforderungen gerecht.

Die Verweisung in § 38 Abs. 3 Nr. 1 WpHG auf Art. 14 MAR ist als bloßer Verzicht zu werten, deren Wortlaut wiederzugeben. Die Verweisungsnorm bestimmt unabhängig von der Bezugsnorm die Rechtsfolge. Es ist nicht entscheidend, ob die Bezugsnorm selbst eine Rechtsfolge enthält und ob diese bereits anwendbar ist. Voraussetzung ist lediglich, dass die Bezugsnorm durch eine frühere ordnungsgemäße Veröffentlichung bekannt gemacht wurde. Dies ist im Hinblick auf die Marktmissbrauchsverordnung der Fall; diese wurde bereits im Jahr 2014 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Die Strafbarkeit war daher genauso vorhersehbar, als wäre der Wortlaut des Art. 14 MAR in die Vorschrift des § 38 Abs. 3 Nr. 1 WpHG aufgenommen worden.

Auch der Wortlaut des § 38 Abs. 3 Nr. 1 WpHG setzt nicht voraus, dass die Marktmissbrauchsverordnung auf europäischer Ebene bereits anwendbar war. Aus dem Begriff „verstößt“ ergibt sich nicht, dass die Verhaltensregel, gegen die verstoßen wird, bereits unabhängig von einer Bezugnahme anwendbar sein und bestimmte Rechtsfolgen auslösen muss.

Die von dem Bundesgerichtshof vorgenommene Auslegung des § 38 Abs. 3 Nr. 1 WpHG ist im Übrigen weder objektiv willkürlich, noch verkennt sie  europäisches Recht.