Bundesverfassungsgericht

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Zum Ausschluß von Gewerkschaftsmitgliedern, die bei einer Betriebsratswahl auf einer konkurrierenden Liste kandidierten

Pressemitteilung Nr. 55/1999 vom 7. Mai 1999

Beschluss vom 24. Februar 1999
1 BvR 123/93

Die Verfassungsbeschwerde betraf zivilgerichtliche Entscheidungen, nach denen gewerkschaftliche Maßnahmen (Ausschluß bzw. Funktionsverbot) gegen Gewerkschaftsmitglieder, die bei einer Betriebsratswahl auf einer konkurrierenden Liste kandidierten, unwirksam sind.

Nach dem Beschluß des Ersten Senats des BVerfG verstoßen diese Gerichtsentscheidungen gegen die gewerkschaftliche Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG (Wortlaut s. Anlage). Die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückgewiesen worden.

I.

Insgesamt neun Mitglieder der IG-Metall kandidierten bei der Betriebsratswahl einer Automobilfabrik auf einer mit der Gewerkschaftsliste konkurrierenden Liste. Die IG-Metall schloß daraufhin vier dieser Kandidaten aus ihrer Gewerkschaft aus, die anderen erhielten ein befristetes Funktionsverbot.

Die von den Gewerkschaftsmitgliedern gegen die Verbandsmaßnahmen gerichteten Feststellungsklagen waren in allen Instanzen (bis zum Bundesgerichtshof) erfolgreich. Zur Begründung hieß es im wesentlichen, die Maßnahmen der Gewerkschaft verstießen gegen § 20 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG; Wortlaut s. Anlage) und seien unwirksam.

II.

Die von der IG-Metall hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde hat Erfolg. Die Beschwerdeführerin wird durch die angegriffenen Entscheidungen in ihrer Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) verletzt.

1. Art. 9 Abs. 3 GG schützt nach der Rechtsprechung des BVerfG auch den Bestand und die Organisation von Koalitionen, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung ihrer Geschäfte. Geschützt sind damit auch Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Geschlossenheit nach innen und außen. Der Schutz erstreckt sich auf alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen.

2. Die Gerichte haben bei der Auslegung und Anwendung des § 20 Abs. 2 BetrVG Bedeutung und Tragweite des Art. 9 Abs. 3 GG verkannt.

a) Das Verbot einer Maßregelung von Mitgliedern, die bei Betriebsratswahlen auf einer konkurrierenden Liste kandidieren, beeinträchtigt die Koalitionsfreiheit der Beschwerdeführerin nachhaltig.

Für Koalitionen im Sinne von Art. 9 Abs. 3 GG ist die Solidarität ihrer Mitglieder und ein geschlossenes Auftreten nach außen von besonderer Bedeutung. Vor allem darauf beruht ihre Fähigkeit, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder wirksam zu fördern und zu wahren.

Auch im Rahmen der betrieblichen Mitbestimmung fördern die Gewerkschaften die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder und nehmen damit eine verfassungsrechtlich geschützte Funktion wahr. Sie haben seit 1989 das Recht, sich an Betriebsratswahlen mit eigenen Listen zu beteiligen. Die Glaubwürdigkeit ihrer Wahlaussagen und das Vertrauen in ihre Durchsetzungsfähigkeit hängen wesentlich von dem Eindruck ihrer Geschlossenheit ab. Konkurrierende Listen eigener Mitglieder wirken dem entgegen. Die abträgliche Wirkung strahlt auf das Gesamtbild der Gewerkschaft ab und berührt damit auch das Vertrauen in ihre Durchsetzungsfähigkeit bei Tarifauseinandersetzungen.

b) Demgegenüber kommt dem Schutz der betrieblichen Arbeitnehmer vor einer unfreiwilligen Beendigung ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft nur geringes Gewicht zu. Sie haben sich mit ihrem Beitritt zur Gewerkschaft freiwillig deren Satzungsautonomie unterworfen und die Verbindlichkeit ordnungsgemäß zustande gekommener Beschlüsse anerkannt. Im Gegenzug hatten sie die Gelegenheit, sich an der gewerkschaftsinternen Willensbildung zu beteiligen und so selbst auf deren Entscheidung Einfluß zu nehmen.

c) Die Würdigung der einander gegenüberstehenden Grundrechtspositionen und öffentlichen Belange führt zur Aufhebung der angegriffenen Urteile.

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 55/99 vom 7. Mai 1999

Art. 9 Abs. 3 GG (Vereinigungs-, Koalitionsfreiheit)

(3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.

§ 20 BetrVG

(1) Niemand darf die Wahl des Betriebsrats behindern. Insbesondere darf kein Arbeitnehmer in der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts beschränkt werden.

(2) Niemand darf die Wahl des Betriebsrats durch Zufügung oder Androhung von Nachteilen oder durch Gewährung oder Versprechen von Vorteilen beeinflussen.

(3) ...