Bundesverfassungsgericht

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Die Bundesregierung hat Auskünfte zum Einsatz von V-Leuten im Zusammenhang mit dem Oktoberfestattentat teilweise zu Unrecht verweigert

Pressemitteilung Nr. 60/2017 vom 18. Juli 2017

Beschluss vom 13. Juni 2017
2 BvE 1/15

Dem Einsatz verdeckter Quellen kommt bei der Informationsbeschaffung der Nachrichtendienste eine hohe Bedeutung zu. Deshalb darf die Bundesregierung Auskünfte zum Einsatz verdeckt handelnder Personen in der Regel mit Hinweis auf eine Gefährdung des Staatswohls und der Grundrechte dieser Personen verweigern, wenn bei Erteilung der begehrten Auskünfte ihre Enttarnung droht. In eng begrenzten Ausnahmefällen, wenn aufgrund besonderer Umstände eine Gefährdung grundrechtlich geschützter Belange und eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste nicht ernsthaft zu befürchten ist, kann aber auch das parlamentarische Informationsinteresse überwiegen. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden und festgestellt, dass die Bundesregierung die Bundestagsfraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE sowie den Deutschen Bundestag teilweise in ihren Rechten verletzt hat, indem sie unter Berufung auf das Staatswohl und die Grundrechte verdeckt handelnder Personen die vollständige Beantwortung von Anfragen zu nachrichtendienstlichen Erkenntnissen zum Oktoberfestattentat verweigert hat.

Sachverhalt:

Am 26. September 1980 explodierte am Haupteingang des Münchner Oktoberfests ein Sprengsatz. Nachdem der Generalbundesanwalt seine Ermittlungen zu dem Attentat im Jahr 1982 abgeschlossen hatte, blieb insbesondere die Rolle von Karl-Heinz Hoffmann, des Gründers der sogenannten „Wehrsportgruppe Hoffmann“, und von Heinz Lembke, einem „Milizionär“ und „Wehrsportler“, der sich im Jahr 1981 in Untersuchungshaft erhängte, ungeklärt. Im Dezember 2014 nahm der Generalbundesanwalt die Ermittlungen zum Oktoberfestattentat wieder auf, nachdem sich eine bis dahin unbekannte Zeugin gemeldet hatte.

Die Bundestagsfraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE machen die unvollständige Beantwortung zweier Kleiner Anfragen zu Erkenntnissen der Nachrichtendienste über das Attentat auf das Münchner Oktoberfest und einer diesbezüglich möglichen Verstrickung von V-Leuten dieser Behörden geltend. Die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus dem Jahr 2014 enthielt insbesondere Fragen zu einem etwaigen Einsatz von Heinz Lembke als V-Mann einer Sicherheitsbehörde des Bundes oder eines Landes. Die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE aus dem Jahr 2015 enthielt insbesondere Fragen zu Umfang und Aufbau der Akten zum Oktoberfestattentat sowie zu Quellen des Bundesamts für Verfassungsschutz. Ferner wurde die Frage gestellt, ob und wie viele Mitglieder der Wehrsportgruppe Hoffmann als V-Leute für das Bundesamt beziehungsweise die Landesämter für Verfassungsschutz tätig geworden seien. Die Bundesregierung verweigerte die Beantwortung einzelner Fragen mit der Begründung, dass es sich um geheimhaltungsbedürftige Informationen handele, deren Bekanntwerden das Wohl des Bundes oder eines Landes gefährden könne.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

1. Dem Deutschen Bundestag steht gegenüber der Bundesregierung ein Frage- und Informationsrecht zu (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), an dem die einzelnen Abgeordneten und die Fraktionen als Zusammenschlüsse von Abgeordneten teilhaben und dem grundsätzlich eine Antwortpflicht der Bundesregierung korrespondiert. Die parlamentarische Kontrolle von Regierung und Verwaltung verwirklicht den Grundsatz der Gewaltenteilung, denn ohne Beteiligung am Wissen der Regierung kann das Parlament sein Kontrollrecht gegenüber der Regierung nicht ausüben. Daher kommt dem parlamentarischen Informationsinteresse besonders hohes Gewicht zu, soweit es um die Aufdeckung möglicher Rechtsverstöße und vergleichbarer Missstände innerhalb von Regierung und Verwaltung geht. Darüber hinaus ist die Kontrollfunktion des Parlaments zugleich Ausfluss der aus dem Demokratieprinzip folgenden Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament. Geheimhaltung gegenüber dem Parlament beschränkt die parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten und kann deshalb den notwendigen demokratischen Legitimationszusammenhang beeinträchtigen oder unterbrechen.

2. Der Informationsanspruch der Abgeordneten, Fraktionen und des Deutschen Bundestages unterliegt gleichwohl Grenzen. Sie ergeben sich hier aus dem Wohl des Bundes oder eines Landes (Staatswohl) und Grundrechten Dritter.

a) Das Staatswohl kann durch das Bekanntwerden geheimhaltungsbedürftiger Informationen gefährdet werden. Allerdings ist es im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes dem Bundestag und der Bundesregierung gemeinsam anvertraut. Da der Bundestag in der Geheimschutzordnung in detaillierter Weise die Voraussetzungen für die Wahrung von Dienstgeheimnissen bei der Erfüllung seiner Aufgaben festgelegt hat, kann diese ein taugliches Instrument des Ausgleichs zwischen exekutivem Geheimhaltungsinteresse und parlamentarischem Informationsinteresse sein. Die Bundesregierung ist aber nicht verpflichtet, dem Bundestag geheime Informationen vorzulegen, wenn dieser nicht den von der Bundesregierung für notwendig gehaltenen Geheimschutz gewährleistet.

b) Außerdem können das Fragerecht der Abgeordneten, Fraktionen und des Bundestages sowie die Antwortpflicht der Bundesregierung dadurch begrenzt sein, dass diese die Grundrechte zu beachten haben. Für V-Leute können sich Gefahren für Leib und Leben ergeben, wenn durch die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage ihre Enttarnung droht. Darüber hinaus sind Auswirkungen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht denkbar. Der allgemeine Achtungsanspruch schützt zudem Verstorbene vor grober Herabwürdigung und Erniedrigung. Schließlich hat eine Vertraulichkeitszusage grundrechtliche Relevanz, da eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG vorliegen kann, wenn das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Gebot des Vertrauensschutzes nicht hinreichend berücksichtigt wird.

3. Die Bundesregierung muss eine vollständige oder teilweise Auskunftsverweigerung hinreichend begründen. Hierdurch wird der Bundestag in die Lage versetzt, zu beurteilen und zu entscheiden, ob er die Verweigerung der Antwort akzeptiert oder weitere Schritte unternimmt, um sein Auskunftsverlangen durchzusetzen. Ein Nachschieben von Gründen ist nicht zulässig. Ist die Verschaffung vollständiger Informationen zunächst ohne zureichende Begründung abgelehnt worden, vermag eine erst im Organstreitverfahren gegebene ergänzende Begründung nichts an dem darin liegenden Rechtsverstoß zu ändern.

4. Nach diesen Maßstäben ist die Bundesregierung zwar grundsätzlich verpflichtet, dem Parlament Antworten auf Anfragen aus dem Bereich der Tätigkeit von Nachrichtendiensten zu erteilen. Angesichts der Bedeutung, die dem Einsatz verdeckter Quellen bei der Informationsbeschaffung der Nachrichtendienste zukommt, kann sich die Bundesregierung trotz des erheblichen Informationsinteresses des Parlaments in diesem Bereich allerdings in der Regel auf eine Gefährdung des Staatswohls und der Grundrechte verdeckt handelnder Personen berufen.

a) Der Schutz von verdeckten Quellen und insbesondere von V-Leuten dient nicht nur dem Interesse der betroffenen Personen. Vielmehr könnten im Falle des Bekanntwerdens von quellenbezogenen Informationen auch Rückschlüsse auf Arbeitsweise und Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste gezogen werden. Die Einhaltung von Vertraulichkeitszusagen ist unverzichtbare Voraussetzung für die Führung und Anwerbung von V-Leuten und damit für die Effektivität der Aufgabenerfüllung durch die Nachrichtendienste. Diesem Geheimhaltungsinteresse steht ein gewichtiges Informationsinteresse des Parlaments gegenüber, weil es beim Einsatz von V-Leuten zur Aufklärung extremistischer Bestrebungen und zur Verhinderung und Aufklärung schwerwiegender Straftaten um die Sicherheit des Staates und seiner Bevölkerung geht. Auch angesichts von Art und Umfang der den Nachrichtendiensten an die Hand gegebenen nachrichtendienstlichen Mittel und wegen der mit der Anwendung dieser Mittel einhergehenden Schwere von Grundrechtseingriffen, der Unbemerkbarkeit des Handelns und der fehlenden Transparenz für die Betroffenen kommt der parlamentarischen Kontrolle eine besondere Aufklärungsfunktion zu.

b) Antworten auf Anfragen zum Einsatz verdeckter Quellen durch die Nachrichtendienste beeinträchtigen Geheimhaltungsinteressen zwar nicht in jedem denkbaren Fall. Allerdings wird sich die Bundesregierung bei Fragen zu verdeckt handelnden Personen in der Regel auf entgegenstehende Gründe des Staatswohls sowie auf die Grundrechte der konkret betroffenen Personen berufen können. Insbesondere bei Fragen, die möglicherweise noch aktive V-Leute betreffen oder sich auf aktuelle beziehungsweise noch nicht weit zurückliegende Ereignisse beziehen, ist regelmäßig von der Gefahr einer Enttarnung der V-Leute auszugehen. Es sind aber eng begrenzte Ausnahmefälle denkbar, in denen das parlamentarische Informationsinteresse überwiegt. Dabei ist der Zeitablauf ein bedeutsamer - wenn auch nicht allein ausschlaggebender - Faktor. So kann sich im Einzelfall bei weit zurückliegenden Vorgängen die Geheimhaltungsbedürftigkeit erheblich vermindert oder erledigt haben.

5. Im Hinblick auf die Frage, ob und gegebenenfalls für welche Behörde Heinz Lembke ein V-Mann gewesen sei, kann die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Informationsinteresse von besonderem Gewicht geltend machen. Denn mit Blick auf eine zukünftige gesetzliche Regelung des Einsatzes von V-Leuten ging es ihr darum festzustellen, ob es - auch in der Vergangenheit - zu einer Verstrickung von V-Leuten in rechtsterroristische Straftaten gekommen ist. Die von der Bundesregierung gegebene Begründung rechtfertigt die Verweigerung der Antwort nicht. Weder kann Heinz Lemke aktuell oder künftig als V-Mann eingesetzt werden, noch liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass laufende oder künftige Aufklärungseinsätze oder Ermittlungen gefährdet werden könnten. Ferner ist nicht plausibel begründet, weshalb die Bundesregierung in diesem Fall von einer Beeinträchtigung der allgemeinen Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste ausgeht. Zudem hat die Bundesregierung, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Heinz Lembke bereits 1981 verstorben ist, auch keine Gründe vorgebracht, die eine Verweigerung der Antwort aus Gründen des Grundrechtsschutzes rechtfertigen können.

6. a) Auch hinsichtlich der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE hat die Bundesregierung ihrer Antwortpflicht nur teilweise genügt. Es lässt sich nicht nachvollziehen, wie sich aus einer nach Jahren und Ursprungsbehörden aufgeschlüsselten Angabe der Zahl der Quellenmeldungen Rückschlüsse auf die Identität einzelner V-Leute oder auf die heutige Arbeitsweise der Nachrichtendienste ziehen lassen sollen. Da die begehrten Informationen keinen hinreichend konkreten Bezug zu verdeckt tätigen Personen aufweisen, ist nicht zu besorgen, dass grundrechtlich geschützte Rechtsgüter etwaiger V-Leute oder Dritter gefährdet werden könnten.

b) Soweit die Bundesregierung vorträgt, dass durch eine Beantwortung der Fragen zu V-Leuten in der Wehrsportgruppe Hoffmann Rückschlüsse auf die aktuelle Arbeitsweise und die Organisation der Nachrichtendienste ermöglicht werden könnten, erscheint dies insbesondere aufgrund des Zeitablaufs nicht nachvollziehbar. Auch ist die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Personen enttarnt werden könnten, aufgrund der gegebenen Umstände so gering, dass sie eine Einschränkung des parlamentarischen Informationsrechts nicht zu rechtfertigen vermag. Die Wehrsportgruppe Hoffmann hatte zum Zeitpunkt ihrer Auflösung etwa 400 Mitglieder. Insofern wären Rückschlüsse auf einzelne Personen nicht möglich.

c) Etwas anderes gilt hinsichtlich der Fragen, die sich auf den Bundesnachrichtendienst beziehen. Die Gefahr einer Enttarnung vom Bundesnachrichtendienst möglicherweise eingesetzter V-Leute in der Wehrsportgruppe Hoffmann wäre schon dann erheblich, wenn die Bundesregierung ihre bloße Existenz bestätigte. Als etwaige V-Leute des Bundesnachrichtendienstes kommen insbesondere die Mitglieder der Nachfolgeorganisation „Wehrsportgruppe Ausland“ in Betracht, die nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes nur noch 15 Mitglieder hatte. In Anbetracht dieser geringen Zahl stiege die Gefahr einer Enttarnung bei einer positiven Beantwortung erheblich. Daher durfte die Bundesregierung die Antwort auf diese Fragen verweigern und musste sie auch nicht nach Maßgabe der Geheimschutzordnung erteilen.

d) Hinsichtlich der Frage nach der Gesamtzahl eingesetzter V-Leute aus der Wehrsportgruppe beim Bundesamt für Verfassungsschutz und bei den Landesämtern für Verfassungsschutz erscheint es kaum möglich, allein aufgrund dieser Zahl nach über 30 Jahren Rückschlüsse auf die heutige Arbeitsweise der Behörden und die Identität einzelner Personen zu ziehen. Die Grenze der Geheimhaltungsbedürftigkeit wird jedoch durch die Fragen danach, wie viele V-Leute für welches Landesamt für Verfassungsschutz tätig waren, überschritten. Diese Information könnte eine Eingrenzung der damaligen Wohnorte etwaiger V-Leute oder ihre Zuordnung zu einzelnen Ortsgruppen der Wehrsportgruppe ermöglichen, was die Gefahr einer Enttarnung erheblich erhöhen würde. Vor diesem Hintergrund ist eine Beeinträchtigung von Belangen des Staatswohls in Gestalt der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste nicht von der Hand zu weisen.