Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines im Maßregelvollzug Untergebrachten gegen die Verweigerung der Einsicht in seine Krankenunterlagen

Pressemitteilung Nr. 3/2006 vom 24. Januar 2006

Beschluss vom 09. Januar 2006
2 BvR 443/02

Die Verfassungsbeschwerde eines in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachten Straftäters gegen die Verweigerung der Einsicht in seine Krankenunterlagen war erfolgreich. Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob die angegriffenen Beschlüsse des Oberlandesgerichts und Landgerichts auf, da sie den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Selbstbestimmung und personale Würde verletzten. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eines im Rahmen des Maßregelvollzugs Behandelten sei durch die Verweigerung der Einsicht in die Krankenunterlagen wesentlich intensiver berührt als in einem privatrechtlichen Behandlungsverhältnis. Daher bestehe im Maßregelvollzug an der Akteneinsicht ein besonders starkes verfassungsrechtlich geschütztes Interesse. Dies hätten die Fachgerichte nicht hinreichend gewürdigt. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer wurde 1990 zu einer Freiheitsstrafe von 11 Jahren verurteilt; zugleich ordnete das Gericht seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an (Maßregelvollzug). Im September 2000 wurden dem Beschwerdeführer zuvor genehmigte Vollzugslockerungen (Ausgänge und Urlaube außerhalb des Klinikgeländes) widerrufen. Ein Antrag der Verteidigerin auf Einsicht in die vollständigen Krankenunterlagen des Beschwerdeführers wurde von der Klinik abgelehnt. Man könne nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nur objektive Befunde wie EEG, EKG und Labordaten zur Verfügung stellen. Vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht blieb der Antrag des Beschwerdeführers, die Klinik zu verpflichten, seiner Verteidigerin Einsicht in sämtliche Krankenunterlagen zu gewähren, ohne Erfolg. Seine Verfassungsbeschwerde führte zur Aufhebung der angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die von den Fachgerichten herangezogene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die den Anspruch des Patienten auf Einsicht in die ihn betreffenden Krankenunterlagen grundsätzlich auf objektive Befunde beschränkt, bietet für die angegriffenen Entscheidungen keine tragfähige Grundlage. Denn im vorliegenden Fall geht es nicht um ein privatrechtliches Arzt-Patienten-Verhältnis, sondern um die Reichweite des Informationsanspruchs eines im Maßregelvollzug Untergebrachten. Im Gegensatz zum privatrechtlichen Behandlungsverhältnis kann der Untergebrachte seinen Arzt und Therapeuten nicht frei wählen. In einem Bereich, der wie der Maßregelvollzug durch ein besonders hohes Machtgefälle zwischen den Beteiligten geprägt ist, sind die Grundrechte der Betroffenen besonderer Gefährdung ausgesetzt. Das gilt auch in Bezug auf die Führung der Akten und den Zugang zu ihnen. Die Akteneinträge sind wesentlicher Teil der Tatsachengrundlage für künftige Vollzugs- und Vollstreckungsentscheidungen. Von ihnen hängt die Ausgestaltung des Vollzugsalltags des Betroffenen und dessen Aussicht, einzelne Freiheiten oder seine Freiheit insgesamt wiederzuerlangen, nicht unwesentlich ab. Vor diesem Hintergrund besteht an der Akteneinsicht im Maßregelvollzug ein besonders starkes verfassungsrechtlich geschütztes Interesse. Der Zugang zu den in den Krankenunterlagen enthaltenen Informationen hat zudem Bedeutung für die Effektivität des Rechtsschutzes in Vollzugs- und Vollstreckungsangelegenheiten.

Dem besonderen verfassungsrechtlichen Gewicht des Informationsinteresses, das sich daraus ergibt, muss bei der Abwägung mit entgegenstehenden Interessen Rechnung getragen werden. Dies betrifft sowohl die Abwägung mit etwaigen Interessen der Therapeuten an der Vertraulichkeit ihrer Einträge in die Krankenakte als auch die Berücksichtigung denkbarer ungünstiger Auswirkungen eines erweiterten Zugangs zu den Krankenakten auf das Dokumentationsverhalten der Therapeuten oder auf das Verhalten des Untergebrachten selbst. Die zu berücksichtigenden Belange müssen sorgfältig ermittelt werden; allgemein gehaltene Befürchtungen, die sich nicht auf substantiierte Anhaltspunkte stützen können, genügen nicht. Erforderlich ist zudem eine Klärung der spezifischen Zwecke der Führung der Krankenakte im Maßregelvollzug und der sich daraus ergebenden dienstlichen Dokumentationspflichten. Ohne eine solche Klärung ist eine begründete Einschätzung und Bewertung der Auswirkungen umfassender Zugänglichkeit der Krankenunterlagen nicht möglich.