Bundesverfassungsgericht

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Inkrafttreten der Einführung einer gesetzlichen Preisansagepflicht bei Call-by-Call-Gesprächen aufgeschoben - Begründung

Pressemitteilung Nr. 32/2012 vom 22. Mai 2012

Beschluss vom 04. Mai 2012
1 BvR 367/12

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte mit Beschluss vom 4. Mai 2012 im Wege der einstweiligen Anordnung entschieden, dass die durch die Neufassung des § 66b Abs. 1 TKG eingeführte Preisansagepflicht bei Call-by-Call-Gesprächen nicht vor dem 1. August 2012 in Kraft tritt. Über den Sachverhalt informiert die Pressemitteilung Nr. 27/2012 vom 4. Mai 2012, die auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts eingesehen werden kann. Das die Neufassung enthaltende Gesetz zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen ist am 9. Mai 2012 im Bundesgesetzblatt verkündet worden.

Der Senat hat nunmehr der Entscheidung eine Begründung beigefügt. Danach beruht die einstweilige Anordnung, die mit 7:1 Stimmen ergangen ist, im Wesentlichen auf folgenden Erwägungen:

I. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Zwar kann eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz grundsätzlich nicht vor dessen Verkündung erhoben werden; dies gilt prinzipiell auch für den gegen ein Gesetz gerichteten Eilantrag. Ausnahmsweise kann das Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung jedoch bereits vor der Verkündung des angegriffenen Gesetzes erlassen, wenn das Gesetzgebungsverfahren vor den gesetzgebenden Organen Bundestag und Bundesrat vollständig abgeschlossen ist, die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten vor der Ausfertigung respektiert wird und das Inkrafttreten der beanstandeten Vorschriften so zeitnah nach der Verkündung des Gesetzes zu erwarten ist, dass effektiver einstweiliger Grundrechtsschutz bei realistischer Einschätzung nicht erlangt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die beanstandete gesetzliche Regelung ist durch Beschluss des Bundestags und Zustimmung des Bundesrats zustande gekommen. Da § 66b Abs. 1 TKG in seiner geänderten Fassung am Tag nach der Verkündung des Gesetzes in Kraft treten soll, könnte mit einem erst nach der Verkündung gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung effektiver Grundrechtsschutz nicht sichergestellt werden. Die Beschwerdeführerin müsste gravierende Nachteile jedenfalls für eine Übergangszeit in Kauf nehmen, weil sie ohne die gebotene Preisansage ihren Vergütungsanspruch verlöre und zudem Gefahr liefe, wegen einer Ordnungswidrigkeit belangt zu werden.

II. Der Antrag hat überwiegend Erfolg.

1. Eine einstweilige Anordnung kann dann nicht ergehen, wenn das Hauptsacheverfahren offensichtlich unbegründet ist. Hiervon ist in Bezug auf die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin nicht auszugehen. Vielmehr spricht viel dafür, dass der Gesetzgeber das Inkrafttreten der in die Berufsausübungsfreiheit eingreifenden Preisansagepflicht zur Wahrung des Grundrechts der Verpflichteten aus Art. 12 Abs. 1 GG auf einen späteren Zeitpunkt hätte festlegen müssen. Die Notwendigkeit einer Übergangsregelung, insbesondere eines späteren Inkrafttretens des neuen Rechts, kommt in Fällen in Betracht, in denen die Beachtung neuer Berufsausübungsregelungen nicht ohne zeitaufwändige und kapitalintensive Umstellungen des Betriebsablaufs möglich ist und der Grundrechtsträger deshalb seine Berufstätigkeit bei unmittelbarem Inkrafttreten der Neuregelung zeitweise einstellen müsste oder aber nur zu unzumutbaren Bedingungen fortführen könnte. So verhält es sich hier. Die Beschwerdeführerin hat plausibel dargelegt, dass nicht nur sie, sondern auch andere Anbieter von Call-by-Call-Gesprächen die neuen Preisansagepflichten erst in mehreren Monaten vollständig realisieren können. Demgegenüber ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber eine Übergangsfrist deshalb für entbehrlich halten durfte, weil die Einführung der Preisansage aus Verbraucherschutzgründen so dringlich war, dass das Interesse der Call-by-Call-Anbieter an einer Übergangsfrist in jedem Fall dahinter zurücktreten musste. Der Gesetzgeber durfte auch nicht deshalb auf eine Übergangsfrist verzichten, weil den Call-by-Call-Anbietern ohnedies ein genügend langer Umstellungszeitraum bis zur voraussichtlichen Verkündung des Gesetzes zur Verfügung stehen würde. Zumindest vor dem Zustandekommen des Gesetzes dürfen vom Grundrechtsträger im Regelfall keine schwer rückgängig zu machende Umstrukturierungen oder gar umfangreiche Investitionen im Hinblick auf eine anstehende Neuregelung erwartet werden.

2. Die somit im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotene Folgenabwägung führt dazu, das Inkrafttreten der Preisansagepflicht bei Call-by-Call-Gesprächen bis zum 31. Juli 2012 auszusetzen. Ein Gesetz darf im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur dann vorläufig am Inkrafttreten gehindert werden, wenn die Nachteile, die mit seinem Inkrafttreten nach späterer Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit verbunden wären, in Ausmaß und Schwere die Nachteile deutlich überwiegen, die im Falle der vorläufigen Verhinderung eines sich als verfassungsgemäß erweisenden Gesetzes einträten. Die der Beschwerdeführerin - und voraussichtlich einer Reihe weiterer Anbieter von Call-by-Call-Gesprächen - drohenden Nachteile bei sofortigem Inkrafttreten der Preisansagepflicht überwiegen die Risiken, die für die Verbraucher aus einem begrenzten Verschieben des Inkrafttretens resultieren. Die Beschwerdeführerin wäre bei einem sofortigen Inkrafttreten der Preisansagepflicht vorübergehend zu Umstellungen in ihrem Geschäftsmodell gezwungen, deren wirtschaftliche Auswirkungen voraussichtlich erheblich, im Einzelnen jedenfalls schwer abschätzbar sind. Zwar ist der Beschwerdeführerin mittlerweile die Realisierung der Preisvoransage gelungen. Von erheblichem Gewicht sind jedoch die Nachteile, die daraus resultieren, dass sie die gebotene Preiszwischenansage frühestens Ende Juli 2012 funktionsfähig installiert haben kann. Sie könnte zwar vorübergehend auf die nach Zeitabschnitten erfolgte Preisstaffelung vollständig verzichten, um einen Verstoß gegen die Pflicht zur Preiszwischenansage zu vermeiden. Damit würde sie allerdings ein wesentliches Merkmal ihres bisherigen Geschäftsmodells aufgeben, das maßgeblich auf einer teilweise sehr starken Abstufung der Gesprächspreise zwischen verschiedenen Tagesabschnitten basiert. Alternativ könnte sie das Gespräch, auch im Falle eines Tarifwechsels, strikt nach dem zu dessen Beginn angesagten Preis abrechnen. Dadurch entgingen ihr allerdings bei einem Wechsel von dem angesagten billigeren in einen teureren Tarif die höheren Einnahmen. Umgekehrt müsste sie bei einem Wechsel vom teureren zu dem billigeren Tarif, wenn das Gespräch gleichwohl zum angesagten teureren Preis abgerechnet wird, mit entsprechender Unzufriedenheit beim Nutzer rechnen. Jedenfalls könnte die Beschwerdeführerin auch bei dieser Vorgehensweise das von ihr gewählte Modell der Preisstaffelung nur eingeschränkt praktizieren.

Demgegenüber wiegen die Risiken, die den Verbrauchern entstehen, wenn die Preisansagepflicht vorübergehend nicht in Kraft tritt, weit weniger schwer. Zwar ist nicht auszuschließen, dass einzelne Call-by-Call-Anbieter unter Fortgeltung der bisherigen Rechtslage kurzfristig ihre Preise in der Hoffnung auf die Unkenntnis ihrer Kunden erhöhen. Es finden sich jedoch keine Anhaltspunkte für eine ernsthafte und generelle Gefährdung der Verbraucher, die ein sofortiges Handeln des Gesetzgebers unverzichtbar erscheinen ließen.