Bundesverfassungsgericht

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Gebot des effektiven Rechtsschutzes verlangt Ausschöpfung sämtlicher erfolgversprechender Erkenntnisquellen im Rehabilitierungsverfahren

Pressemitteilung Nr. 92/2014 vom 23. Oktober 2014

Beschluss vom 24.09.2014 (2 BvR 2782/10)

Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg aufgehoben, mit der es einen Antrag des Beschwerdeführers auf Rehabilitierung wegen seiner Unterbringung in Kinderheimen der ehemaligen DDR abgelehnt hatte. Das Oberlandesgericht ist seiner Amtsermittlungspflicht nicht ausreichend nachgekommen und hat damit das Recht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz verletzt. Zudem hat das Oberlandesgericht seiner Entscheidung eine willkürliche Auslegung des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes zugrunde gelegt, die eine Anwendung des Gesetzes auf die Heimunterbringung von Kindern im Ergebnis ausschließt.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer beantragte im Dezember 2006 seine Rehabilitierung wegen der Unterbringung in Kinderheimen der ehemaligen DDR in den Jahren 1961 bis 1966 und 1967 bis 1970. Mit Beschluss vom 21. Dezember 2007 wies das Landgericht Magdeburg den Antrag zurück. Es sei nicht ersichtlich, dass die Einweisung des Beschwerdeführers in ein Kinderheim unter Zugrundelegung des Standes der pädagogischen Wissenschaften im Jahr 1961 mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar gewesen sei. Die dies bestätigende Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg hob das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 13. Mai 2009 ‑ 2 BvR 718/08 ‑ auf und verwies die Sache zurück. Mit Beschluss vom 22. Oktober 2010 hob das Oberlandesgericht den Beschluss des Landgerichts vom 21. Dezember 2007 auf, soweit darin über Heimeinweisungen des Beschwerdeführers nach 1966 entschieden wurde, und verwarf den Rehabilitierungsantrag in diesem Umfang als unzulässig. Die weitergehende Beschwerde verwarf es - erneut - als unbegründet.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 22. Oktober 2010 verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG und gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Er ist aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.

1. Ein Richterspruch verstößt dann gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Ausprägung als Verbot objektiver Willkür, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Fehlerhafte Rechtsanwendung macht eine Gerichtsentscheidung nicht objektiv willkürlich. Schlechterdings unhaltbar ist eine fachgerichtliche Entscheidung vielmehr erst dann, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird.

a) Soweit das Oberlandesgericht den Rehabilitierungsantrag teilweise - hinsichtlich der Heim-aufenthalte in den Jahren 1967 bis 1970 - als unzulässig verworfen hat, ist dies der Fall. Das Oberlandesgericht hat den offensichtlich einschlägigen § 7 Abs. 2 des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes (StrRehaG) bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Nach § 7 Abs. 2 StrRehaG kann der Antrag bei jedem Gericht schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle gestellt werden. Die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit erfolgt von Amts wegen. Ein unzuständiges Gericht hat die Sache an das örtlich und sachlich zuständige Gericht abzugeben. Die Verwerfung des Antrags als unzulässig mangels eigener örtlicher Zuständigkeit ist nicht vorgesehen.

b) Auch die Annahme des Oberlandesgerichts, die Heimaufenthalte des Beschwerdeführers in den Jahren 1961 bis 1966 hätten keine Freiheitsentziehung im Sinne des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes dargestellt, verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers, das das Oberlandesgericht seiner Entscheidung zugrunde legt, durfte der Beschwerdeführer das jeweilige Heim oder den Aufenthaltsort seiner jeweiligen Heimgruppe nicht verlassen und stand unter der ständigen Aufsicht der Erzieher. Seine Außenkontakte waren erheblich eingeschränkt. Er war durch die ‑ gegen den Willen seiner Mutter erfolgte ‑ Unterbringung in einem Heim außerhalb des Elternhauses und die verwehrten Kontakte zu der Mutter Beschränkungen unterworfen, mit denen bei Kindern in dem Alter des Beschwerdeführers erhebliche psychische Beeinträchtigungen verbunden sind. Er hatte zudem keinerlei individuelle Rückzugsmöglichkeiten und Intimsphäre sowie keinerlei Bewegungsfreiheit oder individuelle Freizeit zu altersgerechtem Spiel, und genoss keinerlei Schutz gegenüber von Lehrern, Erziehern und anderen Kindern ausgeübter Gewalt.

Soweit das Oberlandesgericht meint, bei diesen Unterbringungsbedingungen handele es sich lediglich um altersgerechte Freiheitsbeschränkungen, die nicht über das hinausgingen, was Kinder an üblichen Freiheitsbeschränkungen zu dieser Zeit erfahren hätten, trifft das offensichtlich nicht zu. Kinder in diesem Alter erfahren üblicherweise keine behördlich veranlasste Trennung von ihren Eltern. Auch mussten bei ihren Eltern lebende Kinder in den Jahren 1961 bis 1966 in der Regel nicht unter den von dem Beschwerdeführer geschilderten Umständen leben.

Mit der Begründung des Oberlandesgerichts verbleibt dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz für in Kinderheimen unter haftähnlichen Bedingungen untergebrachte Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren (gar) kein Anwendungsbereich. Ihnen wird eine Rehabilitierung für ein behördlich aus Gründen der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Gründen angeordnetes Leben unter haftähnlichen Bedingungen im Gegensatz zu Jugendlichen und Erwachsenen grundsätzlich verwehrt, obwohl ein solches Leben geeignet ist, gegen den Willen der Eltern von diesen getrennte sechs‑ bis elfjährige Kinder besonders hart zu treffen. Das führt zu einer krassen Missdeutung des § 2 StrRehaG (in der bis zum 8. Dezember 2010 geltenden Fassung), durch die das gesetzgeberische Anliegen grundlegend verfehlt wird.

2. Soweit das Oberlandesgericht annimmt, eine etwaige Freiheitsentziehung sei jedenfalls nicht mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar, verstößt der Beschluss gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes.

a) § 10 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG verpflichtet die Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen. Das erschien dem Gesetzgeber unter anderem im Hinblick auf die besondere Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber den Antragstellern erforderlich. Das Gericht muss Hinweisen auf eine mögliche politische Verfolgung oder sonstige sachfremde Gründe für die Heimeinweisung von Amts wegen unter Ausnutzung aller ihm im Freibeweisverfahren zur Verfügung stehenden Mittel nachgehen. Es hat sämtliche Erkenntnisquellen zu verwenden, die erfahrungsgemäß dazu führen können, die Angaben eines Betroffenen zu bestätigen.

b) Das Oberlandesgericht hat seine Aufgabe zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes verfehlt, indem es der ihm obliegenden Amtsermittlungspflicht nicht hinreichend nachgekommen ist. Erheblich für die Rehabilitierungsentscheidung war hier die Frage, aus welchen Gründen es zu der ersten Heimeinweisung des Beschwerdeführers in den Jahren 1961 oder 1962 gekommen ist. Das Oberlandesgericht hat den Grund der Einweisung des Beschwerdeführers schon wegen der nicht mehr auffindbaren Unterlagen der Jugendhilfe als nicht aufklärbar angesehen. Damit hat es dem Beschwerdeführer die von Rechtsstaats wegen geforderte Überprüfung erheblicher Tatsachen verweigert.

Eine Gesamtschau des Vorbringens des Beschwerdeführers lässt es nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen, dass die Heimeinweisung mit dem Ziel erfolgt ist, seine Mutter unter Kontrolle zu halten. Einen möglichen Anhalt dafür gab der Hinweis des Beschwerdeführers auf ein illegales Verlassen der DDR durch den Bruder der Mutter. Weitere Aufklärung dieses Umstandes durch das Oberlandesgericht hätte dem Beschwerdeführer Anlass gegeben - wie nunmehr im Verfassungsbeschwerdeverfahren - nachzutragen, dass (und wann) ein zweiter Bruder der Mutter nach der Schließung der Berliner Mauer einen Grenzdurchbruch habe erzwingen wollen und deshalb zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden sei. Zudem drängte es sich förmlich auf, dass die Gründe für die Heimeinweisung, die näheren Umstände und das dabei beachtete Verfahren durch die Mutter oder andere Familienmitglieder des Beschwerdeführers, die die maßgebliche Zeit als Erwachsene erlebt haben, näher geschildert werden können. Auch weiteren Ermittlungsanhalten, die sich aus den Akten ergeben, ist das Oberlandesgericht nicht nachgegangen.