BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2011/94 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Rechtsanwalts Dr. M. ... |
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Dr. Hartmut Hiddemann und Partner, Günterstalstraße 31, Freiburg -
gegen |
§ 78 Abs. 1, 2 ZPO in Verbindung mit Art. 22 Abs. 2 des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und Patentanwälte vom 2. September 1994 (BGBl. I S. 2278), |
hier: Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung, |
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung
des Vizepräsidenten Henschel,
der Richter Seidl,
Grimm,
Söllner,
Kühling
und der Richterinnen Seibert,
Jaeger,
Haas
am 7. Dezember 1994 beschlossen:
- Die Anwendung von § 78 Absatz 1 und 2 der Zivilprozeßordnung in der Fassung des Gesetzes vom 20. Februar 1986 (Bundesgesetzblatt I Seite 301) wird in den Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen ausgesetzt, soweit er die Vertretungsbefugnis von Rechtsanwälten, die bei einem Land- oder Amtsgericht eines dieser Länder zugelassen sind, in Anwaltsprozessen vor diesen Gerichten betrifft.
- Insoweit bleibt § 22 des Gesetzes zur Anpassung der Rechtspflege im Beitrittsgebiet vom 26. Juni 1992 (Bundesgesetzblatt I Seite 1147) über den 31. Dezember 1994 hinaus bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens für die Dauer von sechs Monaten, anwendbar.
- Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen im Verfahren auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
G r ü n d e :
I.
1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt mit Kanzleisitz in Aschersleben im Bezirk des Landgerichts Magdeburg, bei dem er zugelassen ist.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet er sich unmittelbar gegen die Erstreckung von § 78 Abs. 1 und 2 ZPO (i.d.F. des Gesetzes vom 20. Februar 1986, BGBl. I S. 301; im folgenden a.F.) auf die fünf neuen Bundesländer für den Zeitraum vom 1. Januar 1995 bis 31. Dezember 2004, soweit diese Vorschriften die Postulationsfähigkeit von Rechtsanwälten in Anwaltsprozessen vor Landgerichten und vor Amtsgerichten in Familiensachen von der Zulassung beim Prozeßgericht oder - in Familiensachen - beim übergeordneten Landgericht abhängig machen. Der hier maßgebliche Teil von § 78 ZPO a.F. lautet:
(1) Vor den Landgerichten und vor allen Gerichten des höheren Rechtszuges müssen die Parteien sich durch einen bei dem Prozeßgericht zugelassenen Rechtsanwalt als Bevollmächtigten vertreten lassen (Anwaltsprozeß).
(2) In Familiensachen müssen sich die Parteien und Beteiligten nach Maßgabe der folgenden Vorschriften durch einen bei dem Gericht zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen:
1. bis 3. ...
Vor dem Familiengericht ist auch ein bei dem übergeordneten Landgericht zugelassener Rechtsanwalt zur Vertretung berechtigt.
Gemäß § 18 Abs. 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO), der nunmehr auch in den neuen Bundesländern gilt, muß jeder Rechtsanwalt bei einem bestimmten Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugelassen sein (berufsrechtliche Lokalisierung). Hieran anknüpfend beschränkt § 78 Abs. 1 und 2 ZPO a.F. die Vertretungsbefugnis eines Rechtsanwalts auf das Landgericht, bei dem er zugelassen ist, und die in dessen Bezirk belegenen Familiengerichte (beschränkte Postulationsfähigkeit).
Für die fünf neuen Bundesländer enthält § 22 des Gesetzes zur Anpassung der Rechtspflege im Beitrittsgebiet vom 26. Juni 1992 - RpflAnpG - (BGBl. I S. 1147) eine Sonderregelung, die teilweise von § 78 Abs. 1 und 2 ZPO a.F. abweicht. § 22 Satz 1 und 2 RpflAnpG lautet:
Im Anwaltsprozeß vor dem Landgericht und vor dem Amtsgericht, soweit dort in Familiensachen eine anwaltliche Vertretung vorgeschrieben ist, kann sich eine Partei oder ein am Verfahren beteiligter Dritter bis zum 31. Dezember 1994 von jedem nach dem Rechtsanwaltsgesetz bei einem Amts- oder Landgericht zugelassenen oder bei einem Bezirksgericht registrierten Rechtsanwalt vertreten lassen. Ein nur beim Amtsgericht zugelassener Rechtsanwalt ist jedoch zur Vertretung bei dem übergeordneten Landgericht nicht befugt.
Zulassungen und Registrierungen nach dem Rechtsanwaltsgesetz sind inzwischen in Zulassungen nach der Bundesrechtsanwaltsordnung überführt worden. Der Gesetzgeber hat § 22 RpflAnpG bis zum 31. Dezember 1994 befristet, um der angestrebten Neuordnung des anwaltlichen Berufsrechts für das gesamte Bundesgebiet nicht vorzugreifen (vgl. BTDrucks. 12/2168, S. 19 und 30).
Diese Reform ist mittlerweile durch das Gesetz zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und Patentanwälte vom 2. September 1994 (BGBl. I S. 2278) erfolgt. Durch Art. 3 Nr. 1 dieses Gesetzes ist § 78 Abs. 1 und 2 ZPO neu gefaßt worden:
(1) Vor den Landgerichten müssen sich die Parteien durch einen bei einem Amts- oder Landgericht zugelassenen Rechtsanwalt und vor allen Gerichten des höheren Rechtszuges durch einen bei dem Prozeßgericht zugelassenen Rechtsanwalt als Bevollmächtigten vertreten lassen (Anwaltsprozeß).
(2) In Familiensachen müssen sich die Parteien und Beteiligten vor den Familiengerichten durch einen bei einem Amts- oder Landgericht zugelassenen Rechtsanwalt und vor allen Gerichten des höheren Rechtszuges durch einen bei dem Prozeßgericht zugelassenen Rechtsanwalt nach Maßgabe der folgenden Vorschriften vertreten lassen: ...
Demnach wird die Verknüpfung von Postulationsfähigkeit und berufsrechtlicher Lokalisierung für Anwaltsprozesse vor den Landgerichten und Amtsgerichten - Familiengerichten - aufgegeben. In solchen Streitigkeiten wird jedem zugelassenen Rechtsanwalt die Postulationsfähigkeit zuerkannt.
Gemäß Art. 22 Abs. 2 des Neuordnungsgesetzes tritt § 78 Abs. 1 und 2 ZPO n.F. in den alten Bundesländern und in Berlin am 1. Januar 2000, in den fünf neuen Bundesländern erst am 1. Januar 2005 in Kraft. Diese Übergangsregelungen entsprechen Vorschlägen des Vermittlungsausschusses, der vom Bundesrat zum Zwecke der Erhaltung des § 78 Abs. 1 und 2 ZPO a.F. angerufen worden war (vgl. BTDrucks. 12/7835, 12/7868). Das Hinausschieben des Inkrafttretens von § 78 Abs. 1 und 2 ZPO n.F. hat für die neuen Bundesländer zur Folge, daß dort ab 1. Januar 1995 die beschränkte Postulationsfähigkeit gemäß § 78 Abs. 1 und 2 ZPO a.F., die in den alten Bundesländern nach einer Übergangsfrist von fünf Jahren ausläuft, für die Dauer von zehn Jahren eingeführt wird.
2. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG durch das Inkrafttreten von § 78 Abs. 1 und 2 ZPO a.F. auch im Bundesland Sachsen-Anhalt und trägt zur Begründung im wesentlichen vor:
Er habe Klienten nicht nur im Bezirk des Landgerichts Magdeburg, sondern auch in den benachbarten Bezirken der Landgerichte Halle und Dessau. Diese beiden Gerichte seien jeweils etwa 50 km von Aschersleben entfernt. Nach Inkrafttreten des neuen Rechts werde er Prozeßmandate vor den Landgerichten außerhalb Magdeburgs verlieren. Die damit verbundenen finanziellen Einbußen seien um so gravierender, als er seine Kanzlei nach der Wende unter erschwerten Bedingungen habe aufbauen müssen.
Der in der Anordnung der beschränkten Postulationsfähigkeit liegende Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung sei weder geeignet noch erforderlich, um die damit verfolgten Ziele zu erreichen. Dies werde auch dadurch deutlich, daß die Regelung für allgemeine Zivilprozesse vor den Amtsgerichten und für die Verfahren vor den Fachgerichten nicht gelte, ohne daß dadurch Nachteile entstünden. Sachliche Gründe für die Erstreckung von § 78 Abs. 1 und 2 ZPO a.F. auf die neuen Bundesländer seien nicht erkennbar. Noch weniger sei zu begründen, warum er dort fünf Jahre länger als in den alten Ländern gelten solle.
Der Erlaß einer einstweiligen Anordnung sei zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten. Ergehe die einstweilige Anordnung nicht, erweise sich die Verfassungsbeschwerde aber später als begründet, so werde durch die Erstreckung der beschränkten Postulationsfähigkeit auf die neuen Bundesländer und die nachfolgende Abschaffung erheblicher Schaden für die betroffenen Rechtsanwälte angerichtet sowie insgesamt die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege in den neuen Bundesländern beeinträchtigt.
II.
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang muß das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (BVerfGE 88, 169 <172>; st. Rspr.). Dabei ist ein strenger Maßstab anzulegen, wenn eine gesetzliche Regelung außer Kraft gesetzt werden soll (BVerfGE 83, 162 <171>; st. Rspr.).
2. Die unmittelbar gegen § 78 Abs. 1 und 2 ZPO a.F. gerichtete Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
a) Der Beschwerdeführer ist durch die Einführung dieser Vorschrift in den neuen Bundesländern ab 1. Januar 1995 bereits jetzt selbst und unmittelbar in seinem Beruf als Rechtsanwalt betroffen. Er wird fortan gehindert, seine Mandanten in Zivilprozessen zu vertreten, die in den neuen Bundesländern an anderen Landgerichten als dem Landgericht Magdeburg und an anderen Familiengerichten als den im Landgerichtsbezirk Magdeburg belegenen geführt werden. Eben dies ist ihm nach § 22 RpflAnpG bis zum 31. Dezember 1994 noch möglich.
b) Die Verfassungsbeschwerde ist auch rechtzeitig erhoben. Da § 78 Abs. 1 und 2 ZPO a.F. in den neuen Bundesländern erst ab 1. Januar 1995 wirksam wird, ist die Jahresfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG gewahrt. Das gilt unabhängig davon, ob die Rechtsgrundlage für die Erstreckung dieser Vorschrift bereits in § 22 RpflAnpG oder erst in Art. 22 Abs. 2 des Neuordnungsgesetzes gesehen wird.
3. Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht offensichtlich unbegründet.
Ob die Einführung der beschränkten Postulationsfähigkeit in den neuen Bundesländern für die Dauer von zehn Jahren gerechtfertigt ist, bedarf schon deshalb näherer Prüfung, weil der Gesetzgeber in den alten Bundesländern nach einer Übergangsfrist von fünf Jahren die Abschaffung dieser Beschränkung vorgesehen hat.
4. Die Entscheidung über den Erlaß der einstweiligen Anordnung hängt danach von der Abwägung der eintretenden Folgen ab.
a) Ergeht die einstweilige Anordnung und wird die Regelung des § 78 Abs. 1 und 2 ZPO a.F. in den neuen Bundesländern bei gleichzeitiger Weitergeltung des § 22 RpflAnpG nicht in Kraft gesetzt, so wird nur die Einführung der beschränkten Postulationsfähigkeit hinausgeschoben. Der vom Gesetzgeber mit dieser Erstreckung wohl vor allem verfolgte Zweck, die Rechtsanwälte in den neuen Bundesländern noch für eine gewisse Zeit vor dem Wettbewerb mit Rechtsanwälten aus den alten Bundesländern zu schützen, wird durch die vorläufige Aufrechterhaltung des § 22 RpflAnpG hinlänglich erreicht. Erweist sich m Hauptsacheverfahren die angefochtene Regelung als verfassungsgemäß, wird lediglich der vom Gesetzgeber bisher auf zehn Jahre angesetzte Übergangszeitraum verkürzt.
b) Ergeht jedoch die einstweilige Anordnung nicht, gilt § 78 Abs. 1 und 2 ZPO a.F. ab 1. Januar 1995 in den neuen Bundesländern. Erweist sich die Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren als begründet, war die Anwaltstätigkeit in den neuen Bundesländern in der Zwischenzeit spürbar behindert. Die dort zugelassenen Rechtsanwälte müssen sich zunächst auf die Beschränkung der Postulationsfähigkeit umstellen; sie können Mandate nicht mehr in gewohnter Weise betreuen. Art und Ausmaß dieser Behinderung wird zwar von der Zusammensetzung der Klientel sowie der Spezialisierung des einzelnen Rechtsanwalts abhängen. Die Umstellung wird jedoch im Regelfall den Verlust von Mandaten nach sich ziehen und die Gewinnung neuer Mandate erschweren. Die Folgen werden dadurch verstärkt, daß sich in den neuen Bundesländern viele Kanzleien, insbesondere im ländlichen Raum, noch in der Phase des Aufbaus befinden. Es ist zu erwarten, daß gerade kleine Kanzleien die zweimalige Umstellung innerhalb relativ kurzer Zeit besonders schwer verkraften würden.
c) Die Abwägung ergibt, daß dem Interesse an der vorläufigen Aussetzung des Inkrafttretens von § 78 Abs. 1 und 2 ZPO a.F. im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang - verbunden mit der weiteren Anwendbarkeit von § 22 RpflAnpG - der Vorrang einzuräumen ist. Denn es ist nicht erkennbar, daß der beabsichtigte Schutz nur durch eine sofortige Einführung der beschränkten Postulationsfähigkeit in den neuen Bundesländern verwirklicht werden könnte.
Henschel | Seidl | Grimm | |||||||||
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