Bundesverfassungsgericht
- 1 BvR 587/95 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S...
gegen a) | den Beschluß des
Bundesgerichtshofs vom 8. Februar 1995 - XII ZR 201/93 -, |
b) | das Urteil des
Oberlandesgerichts München vom 2. Juli 1993 - 21 U 6514/90 -, |
c) | das Urteil des Landgerichts
München I vom 18. Oktober 1990 - 2 O 18060/89 - |
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Vizepräsidenten Seidl,
den Richter Grimm
und die Richterin Haas
am 7. April 1997 einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Oberlandesgerichts München vom
2. Juli 1993 - 21 U 6514/90 - verletzt den Beschwerdeführer
in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes
in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Es wird
aufgehoben. Damit wird der Beschluß des Bundesgerichtshofs
vom 8. Februar 1995 - XII ZR 201/93 - gegenstandslos. Die
Sache wird an das Oberlandesgericht München
zurückverwiesen.
Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur
Entscheidung angenommen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen
Auslagen zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, inwieweit die Befundtatsachen eines Mietwertgutachtens offengelegt werden müssen.
1. Der Beschwerdeführer und der Erstbeklagte des Ausgangsverfahrens mieteten von dem Kläger jenes Verfahrens ein Ladenlokal und eine Wohnung in dem Bauobjekt "Die Platzlgassen" in der Münchener Innenstadt. Der monatliche Mietzins für das auf die Dauer von zehn Jahren geschlossene Mietverhältnis beträgt 13.000 DM. Der Erstbeklagte betrieb in dem Ladenlokal eine Modeboutique, stellte den Geschäftsbetrieb jedoch schon bald wegen Vermögensverfalls ein. Anschließend teilten beide Mieter dem Kläger mit, daß sie den Mietvertrag wegen überzogen hohen Mietzinses für nichtig hielten.
Das Landgericht gab der auf Feststellung der Wirksamkeit des Vertrages gerichteten Klage statt.
Im Berufungsverfahren holte das Oberlandesgericht ein Sachverständigengutachten über den Mietwert des Ladens und der Wohnung ein. Der Sachverständige bewertete die Geschäftslage mit einem "Mittelwert zwischen der 1a-Lage und 1b-Lage im Stadtkern", die Wohnlage als "gut bis sehr gut". Den Mietwert ermittelte er für den Laden aufgrund von Vergleichsmieten seiner eigenen Mietkartei und Feststellungen in der Umgebung des Objekts, für die Wohnung aufgrund von Vergleichsmieten seiner eigenen Mietkartei. Zur Festigung der Vergleichsmietermittlung für das Ladenlokal nahm er zusätzlich eine Bewertung nach dem Preisspiegel des Rings Deutscher Makler vor. Bei seiner mündlichen Anhörung vor dem Gericht erläuterte er, daß er als Grundlage für die Bewertung der Geschäftslage Auskünfte von Geschäftsinhabern in der Umgebung der Mietsache eingeholt habe. Er wies darauf hin, daß er hinsichtlich der bei seiner beruflichen Tätigkeit erlangten Kenntnisse einer Schweigepflicht unterliege und deshalb keine näheren Angaben zu den Vergleichsobjekten machen könne, auf die er zur Beurteilung des Laufkundenanteils und der Miete vergleichbarer Objekte zurückgegriffen habe. Der Beschwerdeführer und der Erstbeklagte legten im Berufungsverfahren ein Gegengutachten vor, das einen um mehr als die Hälfte geringeren Mietwert ermittelte.
Das Oberlandesgericht wies die Berufung des Beschwerdeführers zurück. Auf der Grundlage des von dem gerichtlichen Sachverständigen ermittelten Mietwerts verneinte es einen Verstoß gegen § 138 Abs. 1 BGB. Die vom Beschwerdeführer gegen das Gutachten geäußerten Bedenken griffen nicht durch. Für die vom Beschwerdeführer beantragte Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zur Frage des angemessenen Mietzinses bestehe kein Anlaß, weil die Voraussetzungen des § 412 ZPO nicht vorlägen.
Die Revision des Beschwerdeführers nahm der Bundesgerichtshof nicht an, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung und im Ergebnis auch keine Aussicht auf Erfolg habe.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG. Zur Begründung macht er im wesentlichen geltend: Das Berufungsgericht habe das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen verwertet, obwohl er nicht bereit gewesen sei, die Vergleichswohnungen und Vergleichsläden in nachprüfbarer Weise bekanntzugeben und die Geschäfte zu bezeichnen, bei denen er Nachfragen angestellt habe. Das widerspreche rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen und dem Recht auf Gehör. Angesichts der Mängel und Widersprüche des Sachverständigengutachtens hätte das Gericht ein weiteres Gutachten einholen müssen.
3. Zu der Verfassungsbeschwerde hat sich das Bayerische Staatsministerium der Justiz geäußert. Es vertritt die Auffassung, das Berufungsgericht hätte seine Entscheidung nicht auf das gerichtliche Gutachten stützen dürfen, da die Befundtatsachen nicht im erforderlichen Umfang offengelegt seien. Trotzdem sei das Urteil im Ergebnis nicht zu beanstanden. Das Risiko, daß sich die Einschätzung beider Vertragspartner bei Vertragsschluß, das Objekt sei durch eine sehr gute Geschäftslage gekennzeichnet, als falsch erweise, trage nach der Rechtsprechung jede Partei selbst.
II.
1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Oberlandesgerichts ist zur Durchsetzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Berufungsurteil verletzt den Beschwerdeführer in dem genannten Grundrecht. Die für diese Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
a) Maßstab für die Überprüfung der Entscheidung ist in erster Linie der aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgende Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren. Zu den für einen fairen Prozeß unerläßlichen Verfahrensregeln gehört, daß das Gericht die Aussagen eines Gutachtens nicht ungeprüft übernimmt. Zur Nachprüfung kann die Kenntnis der einzelnen tatsächlichen Umstände, die der Sachverständige selbst erhoben und seinem Gutachten zugrunde gelegt hat, unentbehrlich sein. In einem solchen Fall ist die Offenlegung dieser Tatsachen aus rechtsstaatlichen Gründen regelmäßig geboten. Die Forderung nach einer eigenen Überprüfung durch die Beteiligten ist um so berechtigter, je weniger das Gutachten auf dem Erfahrungswissen des Sachverständigen und je mehr es auf einzelnen konkreten Befundtatsachen aufbaut (BVerfGE 91, 176 <181 f.>).
Unter bestimmten Voraussetzungen können allerdings Abstriche an dem Offenlegungsanspruch der Parteien gerechtfertigt sein. Dies kann etwa zutreffen, wenn ein Beteiligter seine Zweifel nicht hinreichend substantiiert oder wenn das Schweigen des Sachverständigen auf anerkennenswerten Gründen beruht und die Nichtverwertung des Gutachtens zum materiellen Rechtsverlust eines Beteiligten führen würde (BVerfG, a.a.O., S. 183). Unterbleibt eine vollständige Offenlegung aus anerkennenswerten Gründen und kann auf eine Verwertung des Gutachtens aus überwiegendem Interese der beweispflichtigen Partei dennoch nicht verzichtet werden, so muß das Gericht immerhin versuchen, sich Gewißheit zu verschaffen, in welcher Weise der Sachverständige seine Daten erhoben hat (BVerfG, a.a.O., S. 184).
b) Diesen Grundsätzen wird das - schon vor der zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergangene - Berufungsurteil nicht gerecht.
Das Oberlandesgericht hat das eingeholte Gutachten verwertet, ohne sich mit der Weigerung des Sachverständigen, die Befundtatsachen offenzulegen, überhaupt auseinanderzusetzen. Der Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten und den ergänzenden mündlichen Erläuterungen nicht bloß die Namen der Mieter und die Adressen der zur Beurteilung herangezogenen Geschäftslokale und Wohnungen geheimgehalten, sondern zur Lage überhaupt nur sehr vage Angaben gemacht. Das gilt sowohl für die Objekte, auf die sich seine Feststellungen zum Anteil der Laufkundschaft beziehen, als auch für die zur Ermittlung des ortsüblichen Mietpreises herangezogenen Vergleichsobjekte. Ohne genauere Angaben ist weder die Lagebeurteilung noch die anschließende Preisbeurteilung überprüfbar. Für die Lagebeurteilung folgt dies daraus, daß nach dem unwidersprochenen Vortrag des Beschwerdeführers in der Umgebung des streitigen Ladenlokals unterschiedlich starke Passantenströme feststellbar sind; die Aussagekraft der gutachterlichen Feststellungen hängt deshalb entscheidend davon ab, in welchen Teilbereichen Befragungen durchgeführt wurden. Noch vager sind die Angaben zur Lage der für den Preisvergleich herangezogenen Objekte. Dies trifft auch für die zum Vergleich herangezogenen Ladenlokale zu. Der Sachverständige räumt ein, daß diese acht Vergleichsobjekte in ihrer Lage dem streitbefangenen Objekt teilweise nicht entsprechen und deshalb "durch Zu- und Abschläge an die Lageüblichkeit herangeführt werden" mußten. Daß das Gutachten insoweit nicht nur auf konkreten Befundtatsachen, sondern auch auf dem Erfahrungswissen des Sachverständigen aufbaut, mag Abstriche am Maß der offenzulegenden Tatsachen rechtfertigen. Der bloße Hinweis, es handele sich um Objekte "aus umliegenden Lagen und anderen Innenstadtlagen", schließt angesichts der Größe der Münchener Innenstadt und des unterschiedlichen Zuschnitts einzelner Innenstadtlagen sowie fehlender Angaben zu den Kriterien, nach denen die jeweiligen Mieten "an die Lageüblichkeit herangeführt" wurden, jedoch selbst eine grobe Nachprüfung des vorgenommenen Vergleichs aus.
Dies ist nicht deshalb unbeachtlich, weil der Sachverständige sich bei seiner Preisbeurteilung auch auf den Preisspiegel des Rings Deutscher Makler, also auf statistisch erfaßtes Material, gestützt hat. Der Sachverständige hat den Preisspiegel nach den Angaben im Gutachten lediglich "zur Festigung der Vergleichsmietermittlung" herangezogen. Primär stützt er das Ergebnis seines Gutachtens also auf die von ihm selbst ermittelten Befundtatsachen und zieht den Preisspiegel nur ergänzend heran. Dann aber muß auch die auf der Grundlage der selbst ermittelten Befundtatsachen vorgenommene Vergleichsmietermittlung nachprüfbar sein.
Anerkennenswerte Gründe, die den Verzicht auf eine weitergehende Offenlegung rechtfertigen würden, bestehen nicht. Angaben über Mietobjekte zählen nicht zu den Daten aus der engsten Privatsphäre, deren Preisgabe niemandem zumutbar ist. Durch den allgemeinen Hinweis des Sachverständigen auf seine berufliche Schweigepflicht ist nicht einmal dargetan, geschweige denn belegt, daß die Mieter bzw. Vermieter der von ihm zur Beurteilung herangezogenen Objekte sich auf Nachfrage gegen eine Preisgabe konkretisierender Angaben - gegebenenfalls beschränkt auf Lagebezeichnungen ohne Adressenangabe - gesperrt hätten. Im übrigen bildet allein der Umstand, daß Dritte der Bekanntgabe von Tatsachen aus ihrer Sphäre widersprochen haben und der Sachverständige sich daran gebunden fühlt, keinen ausreichenden Grund dafür, das Urteil auf ein solches Gutachten zu stützen (BVerfGE 91, 176 <184>).
c) Das Berufungsurteil beruht auch auf diesem Verstoß. Es ist nicht auszuschließen, daß durch die Offenlegung der Befundtatsachen im notwendigen Umfang Fehler des Gutachtens aufgedeckt worden wären, die eine so deutliche Korrektur des ortsüblichen Mietpreises nach unten erforderlich gemacht hätten, daß der vereinbarte Mietpreis nach der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts als sittenwidrig erschiene. Diese Möglichkeit kann um so weniger ausgeschlossen werden, als der vom Beschwerdeführer beauftragte Sachverständige E. in seiner gutachtlichen Stellungnahme zu eben diesem Ergebnis gekommen ist.
Die vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz angeführte Rechtsprechung zu der Frage, welche Mietvertragspartei das Risiko nicht erfüllter Ertragserwartungen zu tragen hat (vgl. BGH, NJW 1970, S. 1313 f.; NJW 1978, S. 2390 ff.; NJW 1981, S. 2405 f.), stellt diese Beurteilung nicht in Frage. Die einschlägigen Entscheidungen befassen sich allein mit dem Vorliegen eines Fehlers bzw. dem Wegfall der Geschäftsgrundlage. Daß aus dieser Rechtsprechung zwingende Schlüsse für die Prüfung am Maßstab des § 138 Abs. 1 BGB gezogen werden müßten, läßt sich nicht mit Gewißheit feststellen; das Oberlandesgericht hat dies nicht einmal in Betracht gezogen.
2. Mit der Aufhebung des Berufungsurteils wird der ebenfalls angegriffene Beschluß des Bundesgerichtshofs gegenstandslos.
3. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde auch gegen das Urteil des Landgerichts richtet, ist sie unzulässig und deshalb nicht zur Entscheidung anzunehmen. Der Beschwerdeführer hat eine Verletzung seiner Grundrechte durch dieses Urteil nicht nachvollziehbar dargetan.
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Grimm | Haas | Seidl |