BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2597/05 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des minderjährigen Kindes F.,
gesetzlich vertreten durch Frau L.,
Familienwohngruppe "Sp.", Familie Sch.,
Am Hohlacker 61, 60435 Frankfurt -
gegen a) | den Beschluss des Bundessozialgerichts vom 29. November 2005 – B 9a VG 20/05 B -, |
b) | das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. September 2005 – L 4 VG 4/04 - |
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Gaier
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 15. Februar 2006 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Voraussetzungen des § 93 a Abs. 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) nicht vorliegen. Sie ist unzulässig.
1. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht der in dem Gebot der Rechtswegerschöpfung zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität entgegen.
Das Gebot der Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) wird nicht bereits dadurch gewahrt, dass ein Rechtsbehelf fristgemäß erhoben wird. Vielmehr muss er auch den gesetzlichen und durch die Rechtsprechung konkretisierten Begründungsanforderungen entsprechen. Dies ist hier nicht der Fall.
a) Gegen die Bestimmungen der §§ 160 Abs. 2, 160 a Abs. 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), auf denen der angegriffene Beschluss des Bundessozialgerichts beruht, bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 19. Februar 1992, 1 BvR 1935/91, SozR 3-1500 § 160 Nr. 6 m.w.N.). Denn die Anrufung der Gerichte kann von der Erfüllung bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden; dies gilt insbesondere für das Verfahren vor dem Revisionsgericht. Zu den formalen Voraussetzungen gehört auch das Begründungserfordernis für die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 160 a Abs. 2 Satz 3 SGG. Erst wenn durch solche Normen der Weg zu den Gerichten in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert würde, wären sie mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar (vgl. BVerfG, a.a.O.).
b) Es ist auch nicht ersichtlich, dass das Bundessozialgericht im vorliegenden Fall unzumutbare oder willkürliche Anforderungen an die Darlegungsobliegenheit nach § 160 a Abs. 2 Satz 3 SGG gestellt hat, als es die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision als unzulässig verwarf. Der Beschwerdeführer hat in der Verfassungsbeschwerde auch nicht ansatzweise dargelegt, weshalb die gesetzlich begründete und durch das Bundessozialgericht konkretisierte Darlegungsobliegenheit den Beschwerdeführer unzumutbar beeinträchtigt oder ihre Einforderung auch und gerade in seinem Fall Willkür darstellt. Weder ist vorgetragen noch erkennbar, aus welchen Gründen es unzumutbar gewesen sein könnte, den Revisionsgrund eines Verfahrensfehlers des Landessozialgerichts näher zu bezeichnen und die vom Beschwerdeführer für entscheidungserheblich gehaltene Frage nach Beweiserleichterungen im Zusammenhang mit Aussagen von Kindern in opferentschädigungsrechtlichen Verfahren dem Revisionsrecht des Sozialgerichtsgesetzes systemgerecht zuzuordnen.
2. Der Beschwerdeführer hat die Verfassungsbeschwerde zudem nicht hinreichend begründet (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG).
a) Der Vortrag, sein Anspruch auf effektiven Rechtsschutz sei durch die lange Dauer des Verwaltungsverfahrens sowie des erstinstanzlichen sozialgerichtlichen Verfahrens verletzt worden, ist nicht schlüssig. Denn mit der Verfassungsbeschwerde sind ausdrücklich nur die Entscheidungen des Landessozialgerichts und des Bundessozialgerichts angegriffen, nicht dagegen die Verwaltungsentscheidungen und die Entscheidung des Sozialgerichts.
Soweit der Beschwerdeführer behauptet, das Landessozialgericht und das Bundessozialgericht seien über den behaupteten Verfassungsverstoß des Sozialgerichts "einfach hinweggegangen", stellt dies keine substantiierte Begründung der Verfassungsbeschwerde dar. Sofern damit angedeutet sein soll, Berufungs- und Revisionsgericht hätten auf diese Weise einen eigenständigen Verfahrensverstoß begangen und dadurch Verfassungsrechte des Beschwerdeführers verletzt, fehlt hierzu jeglicher Vortrag. Dieser war aber erforderlich, weil das Bundessozialgericht nach geltendem Revisionsrecht nicht die Entscheidung des Sozialgerichts, sondern die Entscheidung des Landessozialgerichts überprüft (§ 162 SGG). Ein eigener Verfahrensverstoß des Landessozialgerichts hätte möglicherweise dann vorliegen können, wenn der Beschwerdeführer den vermeintlichen Verfahrensfehler des Sozialgerichts, sofern dieser zwischenzeitlich nicht geheilt worden ist, vor dem Landessozialgericht gerügt und dieses sich sodann über die Rüge hinweggesetzt hätte. Ob dies der Fall war, ergibt sich jedoch weder aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde noch ist dies ersichtlich.
aa) Ist zugunsten des Beschwerdeführers davon auszugehen, dass mit der Verfassungsbeschwerde - trotz seines ausdrücklich anders lautenden Antrages - auch die Entscheidungen im Verwaltungsverfahren sowie im erstinstanzlichen Sozialgerichtsverfahren angegriffen werden sollten, ergibt sich aus der Begründung der Verfassungsbeschwerde jedoch nach wie vor nicht die Möglichkeit einer Verfassungsrechtsverletzung.
Eine überlange Dauer des Verwaltungsverfahrens ist nicht zu erkennen. Die Versorgungsverwaltung entschied zwar über den im Mai 1995 gestellten Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) erst im Mai 1998. Dies geschah jedoch verhältnismäßig zeitnah nach der Verkündung der strafgerichtlichen Urteile im Dezember 1996, Januar 1997 und Juni 1997. Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass die Versorgungsverwaltung die Ergebnisse der strafrechtlichen Ermittlungen sowie der strafgerichtlichen Verfahren abwartete und davon absah, zeitgleich aufwändige eigene Ermittlungen von Amts wegen durchzuführen. Dies hätte auch die betroffenen Kinder zusätzlich belastet.
bb) Aus dem Vortrag des Beschwerdeführers ergibt sich nicht hinreichend, dass das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz durch die lange Dauer des erstinstanzlichen sozialgerichtlichen Verfahrens verletzt worden sein könnte.
Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, das für die Verwaltungsgerichte aus Art. 19 Abs. 4 GG abgeleitet wird, verlangt, dass Gerichtsverfahren in angemessener Zeit beendet sind (vgl. BVerfGE 60, 253 <269>; 93, 1 <13>). Dies entspricht auch den Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten <MRK> an Gerichtsverfahren in einem demokratischen Rechtsstaat (vgl. EGMR, Urteil vom 1. Juli 1997, NJW 1997, S. 2809 <2810>). Es existieren allerdings keine allgemein gültigen Zeitvorgaben. Ob eine Verfahrensdauer noch angemessen ist, hängt von mehreren Faktoren ab. Dies sind vor allem die Natur des Verfahrens und die Bedeutung der Sache (vgl. BVerfGE 46, 17 <29>), die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 6. Mai 1997, NJW 1997, S. 2811 <2812>), die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere Verfahrensverzögerungen durch sie, sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussende Tätigkeit Dritter, vor allem der Sachverständigen (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 20. Juli 2000, NJW 2001, S. 214 <215>; vgl. auch EGMR, Urteil vom 27. Juli 2000, NJW 2001, S. 213).
Der Beschwerdeführer hat zu allen diesen Faktoren nichts vorgetragen. Insbesondere hat er nicht dargelegt, dass das Sozialgericht die Sache etwa über längere Zeit in keiner Weise inhaltlich gefördert (hierzu BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 14. Oktober 2003, NVwZ 2004, S. 334) oder er eine zügige Bearbeitung der Sache angemahnt hat, zum Beispiel durch die Erhebung einer Untätigkeitsbeschwerde (deren Zulässigkeit bejahend LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 12. April 2000, L 1 B 49/00, NZS 2000, S. 626; weitere Nachweise bei Meyer-Ladewig in: ders./Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005, Vor § 143 Rn. 3 d). Zu der nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG erforderlichen Begründung der Verfassungsbeschwerde gehört neben der Bezeichnung des angefochtenen Hoheitsakts jedoch eine substantiierte Darlegung des die Verletzung dieses Rechts bewirkenden Vorgangs (vgl. BVerfGE 81, 208 <214>). Denn wesentlicher Zweck des Begründungserfordernisses ist es, dass sich das Bundesverfassungsgericht bei Verfassungsbeschwerden im Hinblick auf das Annahmeverfahren ohne weitere Ermittlungen eine Meinung über die Erfolgsaussicht des Begehrens bilden kann. Die Begründung muss hierfür eine zuverlässige Grundlage schaffen (BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 18. Februar 1999, 1 BvR 1840/98, JURIS). Dies ist hier nicht der Fall.
b) Soweit der Beschwerdeführer rügt, die zunächst vorhandenen Aufklärungs- und Beweismittel seien durch den langen Zeitablauf zwischen Gewalttat und Urteil des Sozialgerichts vernichtet worden, ist dieser Vortrag ohne hinreichende Substanz. Denn es ist nicht ansatzweise zu erkennen, welche "Aufklärungs- und Beweismittel" der Beschwerdeführer gemeint hat und aus welchen Gründen sie "vernichtet" worden sein sollen.
c) Soweit der Beschwerdeführer meint, eine "Beweiserleichterung" nach § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) vom 1. Januar 1976 (i.d.F. der Bekanntmachung vom 6. Mai 1976, BGBl I S. 1169, zuletzt geändert durch Art. 49 des Gesetzes vom 19. Juni 2001, BGBl I S. 1046, <1124>) sei zu Unrecht versagt worden, betrifft dies die Auslegung einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall. Sie sind allein Sache der dafür zuständigen Fachgerichte und unterliegen einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nur insoweit, als Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlichen unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere des Umfangs seines Schutzbereichs, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind. Das Vorliegen solcher Auslegungsfehler ergibt sich aus dem Vortrag des Beschwerdeführers nicht.
3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier | Steiner | Gaier |