Bundesverfassungsgericht

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Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung von Eilrechtsschutz gegen die sofortige Vollziehung einer Besitzeinweisung erfolgreich

Pressemitteilung Nr. 73/2016 vom 19. Oktober 2016

Beschluss vom 14. September 2016
1 BvR 1335/13

Droht bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche Grundrechtsverletzung, die durch eine stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so darf sich das Fachgericht im Eilverfahren grundsätzlich nicht auf eine bloße Folgenabwägung der widerstreitenden Interessen beschränken. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes erfordert dann vielmehr regelmäßig eine über die sonst übliche, bloß summarische Prüfung des geltend gemachten Anspruchs hinausgehende, inhaltliche Befassung mit der Sach- und Rechtslage. Dies hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden und das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, mit dem sich die Beschwerdeführerin gegen die sofortige Vollziehung einer vorzeitigen Besitzeinweisung wendete, an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin ist Eigentümerin eines unbebauten, bewaldeten Grundstücks, das zwischenzeitlich für den Braunkohletagebau Cottbus-Nord in Anspruch genommen worden ist. Ende 2012 wurde der Beschwerdeführerin das Eigentum an ihrem Grundstück entzogen und zur bergbaulichen Nutzung auf die Betreiberin des Braunkohletagebaus übertragen; über die Klage der Beschwerdeführerin gegen diesen Grundabtretungsbeschluss wurde bislang noch nicht entschieden. Die Betreiberin wurde zudem unter Anordnung der sofortigen Vollziehung vorzeitig in den Besitz des Grundstücks eingewiesen.

Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Besitzeinweisung blieb vor dem Verwaltungsgericht und dem Oberverwaltungsgericht erfolglos. Das Oberverwaltungsgericht führte im Wesentlichen aus, dass bei einer summarischen Prüfung die Erfolgsaussichten der Klage als offen angesehen werden müssten. Gleichwohl gehe die vor diesem Hintergrund vorzunehmende Interessenabwägung im Ergebnis zu Lasten der Beschwerdeführerin aus, da eine Stattgabe des Eilantrags voraussichtlich zu einem mehrmonatigen Stillstand des Tagebaus führen würde.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Grundrechts auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Verfassungsbeschwerde ist erfolgreich, soweit sie sich gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts richtet. Die Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

1. Das Grundrecht des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert jedem den Rechtsweg, der geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in eigenen Rechten verletzt zu sein. Damit wird sowohl der Zugang zu den Gerichten als auch die Wirksamkeit des Rechtsschutzes gewährleistet. Dieser Anspruch des Bürgers auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle umfasst die effektive Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG kommt dabei auch die Aufgabe zu, irreparable Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können, soweit als möglich auszuschließen.

Grundsätzlich ist bei der Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes eine summarische Prüfung verfassungsrechtlich unbedenklich; die notwendige Prüfungsintensität steigt jedoch mit der drohenden Rechtsverletzung, die bis dahin reichen kann, dass die Gerichte unter besonderen Umständen dazu verpflichtet sein können, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Droht einem Antragsteller bei Versagung des fachgerichtlichen, einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen. Denn in diesen Fällen kann das Fachgericht nur im einstweiligen Rechtsschutz eine endgültige Grundrechtsverletzung verhindern. Ausschließlich auf eine sorgfältige und hinreichend substantiierte Folgenabwägung kommt es nur an, soweit eine Rechtmäßigkeitsprüfung nicht möglich ist.

2. Diese Anforderungen an die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat das Oberverwaltungsgericht in seiner Entscheidung nicht beachtet. Das Gericht hat sich auf eine Folgenabwägung zurückgezogen, ohne zuvor zu versuchen, dem verfassungsrechtlichen Gebot der tatsächlichen und rechtlichen Durchdringung des Falles gerecht zu werden. Nur durch sein Eingreifen im einstweiligen Rechtsschutz hätte die endgültige Grundrechtsverletzung vermieden werden können.

a) Das Oberverwaltungsgericht hat keinen Versuch unternommen, die Rechtmäßigkeit der vorzeitigen Besitzeinweisung zu überprüfen, obwohl es erkannt hat, dass durch deren Vollzug ein Zustand geschaffen wird, der zulasten der Beschwerdeführerin die Hauptsache vorwegnimmt. Eine inhaltliche Annäherung an die Lösung der vom Gericht in seinem Beschluss selbst aufgeworfenen offenen Fragen und deren Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der vorzeitigen Besitzeinweisung erfolgte nicht.

Dass eine eingehendere Prüfung der Sach- und Rechtslage für das Oberverwaltungsgericht unmöglich gewesen wäre, ist nicht erkennbar. Die Sach- und Rechtslage erweist sich zwar als komplex; ein weitgehendes Durchdringen der Problemkreise im vorliegenden Fall im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erscheint jedoch nicht ausgeschlossen, zumal das Oberverwaltungsgericht nicht gehalten war, innerhalb des von ihm festgelegten, knapp bemessenen Zeitrahmens zu entscheiden. Die Notwendigkeit der gleichzeitigen Bearbeitung anderer Verfahren ist kein verfassungsrechtlich tragfähiger Grund für eine Reduzierung der Prüfungsintensität. Dies gilt umso mehr, weil die Betreiberin des Braunkohletagebaus das Grundabtretungs- und das Besitzeinweisungsverfahren erst sehr spät eingeleitet hat, obwohl ihr die ablehnende Haltung der Beschwerdeführerin seit langem bekannt war. Je mehr ein Vorhabenträger durch ihm zurechenbares Verhalten die besondere Eilbedürftigkeit einer Entscheidung selbst zu verantworten hat, desto eher sind ihm die aufgrund einer angemessenen, dem Anspruch effektiven Rechtsschutzes gerecht werdenden Dauer des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens entstehende Belastungen zuzumuten.

b) Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts beruht auf der unzureichenden Beachtung der sich aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergebenden Anforderungen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass das Oberverwaltungsgericht bei einer verfassungsrechtlich gebotenen Befassung mit dem Begehren von Eilrechtsschutz zu einem für die Beschwerdeführerin günstigeren Ergebnis gelangt wäre.